„Der Handel plündert den Sozialstaat aus“
Das Verdi-Bundesvorstandsmitglied ist zuständig für den Groß- und Einzelhandel. Dort startet gerade die Tarifrunde.
Frau Nutzenberger, wie begründen Sie Ihre Tarifforderung für den Einzelhandel in NRW von 6,5 Prozent, mindestens jedoch 163 Euro? NUTZENBERGER Aus den Belegschaften haben wir die Rückmeldung, dass das Thema Armut und insbesondere Altersarmut die Menschen im Handel umtreibt. Auch die Tarifflucht, die sich in den vergangenen Jahren noch einmal verschärft hat, ist ein großes Thema. Es ist schon bedauerlich, dass ausgerechnet der Marktführer Edeka in weiten Teilen seines Unternehmens im Einzelhandel ohne Tarif ist und so die Entwicklung befeuert. Wenn einzelne Unternehmen meinen, sich Wettbewerbsvorteile verschaffen zu müssen, indem sie den Mitarbeitern in die Tasche greifen, dann ist das kein zukunftsfähiges Konzept.
Wie wollen Sie die Tarifflucht stoppen?
NUTZENBERGER Wir müssen Druck auf die Politik machen bei der Allgemeinverbindlichkeit. Wenn Sie in die Historie schauen, waren die Einzelhandelstarifverträge bis Ende 1999 noch allesamt allgemeinverbindlich. Da konnte kein Unterbietungswettkampf auf dem Rücken der Beschäftigten stattfinden. Der Gesetzgeber hat es in der Hand, mit dieser Fehlentwicklung Schluss zu machen, denn der Handelsverband Deutschland (HDE) schafft es anscheinend nicht. Das halte ich für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Insgesamt muss die Politik sich des Einzelhandels stärker annehmen.
Das müssen Sie näher erläutern. NUTZENBERGER Nur noch rund 30 Prozent der 3,1 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel unterliegen dem Flächentarif, im Großhandel sind es nur noch rund 21 Prozent. Das ist viel zu wenig. Es gibt Berechnungen, dass durch das Aufstocken der Löhne im Handel auf das HartzIV-Niveau der Staat zuletzt pro Jahr 1,4 Milliarden Euro zahlen muss. Und die Handelskonzerne streichen satte Gewinne ein. Die Koalition macht sich mitschuldig, wenn sie dieser Ausplünderung des Sozialstaates weiter tatenlos zuschaut. Ein Tarifvertrag ist ja auch ein Zeichen von Respekt und Anerkennung für die Leistung. Das gilt für den gesamten Handel. auch den Groß- und Außenhandel.
Wie hoch ist das Lohnniveau im Einzelhandel?
NUTZENBERGER Der Ecklohn beträgt für eine Verkäuferin im letzten Berufsjahr in den meisten Bundesländern 2579 Euro brutto. Davon bleiben in der Steuerklasse I gerade einmal 1710 Euro netto übrig. Da wird schon klar, warum wir unsere Forderung erheben. Denn nur etwas über ein Drittel arbeitet wirklich Vollzeit, der Rest in Teilzeit, davon Hunderttausende als geringfügig Beschäftigte. In Städten wie Köln, Düsseldorf und Essen können Sie davon nicht leben. Wenn es aber schon schwierig ist, den Lebensunterhalt mit Arbeit zu finanzieren, wie soll es dann erst mit einer schmalen Rente sein?
Es gibt aber auch Unternehmen – etwa die Schwarzgruppe mit Lidl und Kaufland – die über Tarif zahlen.
NUTZENBERGER Das begrüßen wir sehr. Ich würde es jedoch noch mehr begrüßen, wenn wir dieses Plus auch in einem Tarifvertrag festhalten könnten, damit der Arbeitgeber nicht plötzlich hingeht und der Belegschaft nach Gutdünken das Plus wieder entziehen kann.
Metro-Chef Olaf Koch hat gesagt, dass bei Real der Unterschied zu den Personalkosten einiger Wettbewerber, die nicht nach Tarifvertrag zahlen, zum Teil bis zu 30 Prozent beträgt.
NUTZENBERGER Herr Koch vergleicht da Äpfel mit Birnen. Er tut so, als seien seine direkten Wettbewerber ausgeschert. Das stimmt so nicht. Reals direkte Konkurrenten, Marktkauf und Kaufland, zahlen Tarif oder sogar darüber. Es scheint bei Real andere Probleme zu geben, von denen Herr Koch gerne ablenken will. Wir würden ihm im Übrigen helfen: Wenn der Flächentarifvertrag allgemeinverbindlich wäre, gäbe es gleiche Ausgangsbedingungen für alle. Dann würde er übrigens auch für Amazon gelten.
Wo Sie seit Jahren erfolglos für die Anwendung des Einzelhandelstarifvertrags streiken. Streik hin oder her, die Pakete kommen trotzdem an, und das Management scheint unbeeindruckt. Eine unendliche Geschichte, oder?
NUTZENBERGER Das sehe ich anders. Als wir uns erstmals dem Thema Amazon gewidmet haben, waren die Arbeitsbedingungen deutlich schlechter. Es gab in den Betrieben keine Wasserspender, die Löhne waren deutlich niedriger, die Mitarbeiter mussten länger arbeiten und hatten weniger Urlaub, und jährliche Entgeltsteigerungen kannte man da gar nicht. All dies ist inzwischen dank der von Verdi organisierten Aktionen und des Muts der Beschäftigten anders. Zudem hat sich der Protest inzwischen europaweit ausgebreitet. Amazon wird am Ende den kürzeren Atem haben als wir.
Wieso machen Sie im Einzelhandel eine reine Lohnrunde? NUTZENBERGER Wir führen parallel, aber unabhängig von der Tarifrunde auch Gespräche über einen Entgeltrahmentarifvertrag. In einer sich wandelnden Arbeitswelt, in der die Arbeitgeber die Beschäftigten mit immer neuen Aufgaben konfrontieren, muss sich das auch in den Tarifverträgen widerspiegeln. Eine Kassiererin hievt heute täglich im wahrsten Sinne des Wortes Tonnen über die Kasse und muss zugleich im Kundenkontakt stets freundlich sein. In den geltenden Tarifwerken wird das nicht berücksichtigt. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Was ist mit Lärm, Zugluft und so weiter? Darüber hinaus geht es auch um gestiegene Anforderungen durch die Digitalisierung.
Zum Thema Galeria Kaufhof: Hat der kanadische Eigentümer Hudson’s Bay das Unternehmen kaputtgemacht?
NUTZENBERGER Tatsache ist: Bis zum Verkauf durch die Metro 2015 war Galeria Kaufhof augenscheinlich ein erfolgreiches Unternehmen. Vier Jahre später sieht das ganz anders aus. Rabattschlachten, Mieterhöhungen und falsche Sortimente sind nur einige Beispiele für Fehlentwicklungen.
Tausende Mitarbeiter sollen ihre Jobs verlieren. Was erwarten Sie von der Führung des neuen Warenhauskonzerns?
NUTZENBERGER Wir erwarten ein tragfähiges, nachhaltiges Konzept für die Zukunft des Unternehmens und seiner Beschäftigten. Das beinhaltet
eine Standort- und Beschäftigungssicherung und die Tarifbindung. Die Beschäftigten von Galeria Kaufhof sind nah dran am Kunden und haben eine hohe Kompetenz . Sie müssen viel stärker als bisher in die Zukunftsplanung eingebunden werden. Da ist noch reichlich Luft nach oben. Wenn einfach nur Personal auf der Fläche abgebaut wird, ist das eine Katastrophe.
Bei Real hat Metro-Chef Koch beteuert, er wolle das Unternehmen als Ganzes verkaufen. Jetzt sieht es so aus, als wenn erst das Unternehmen und dann die Immobilien verkauft werden. Muss man da mehr Druck auf Koch machen? NUTZENBERGER Wenn die Zukunft von 34.000 Menschen auf dem Spiel steht, muss man Druck machen. Herr Koch muss an seinen Taten gemessen werden. Wenn man ein Unternehmen verkauft, muss man immer auch die Folgen im Blick haben und in die Verantwortung gehen für die Menschen, die das Unternehmen groß gemacht haben. Geht es um den Aktienkurs oder um die Menschen? Wenn man den Eindruck hat, dass die Zukunft von 34.000 Beschäftigten für das Management keine Rolle spielt, ist auch die Politik gefragt.