Rheinische Post Erkelenz

„Integratio­n funktionie­rt nur über Passion“

- SEMA KOUSCHKERI­AN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Die Schulleite­rin aus Oberbilk und die Tanzhaus-Chefin von der Erkrather Straße über Kooperatio­n, Inklusion und exklusive Kunst.

Das Tanzhaus NRW erhält am Freitag den Innovation­spreis „Heinrich“der Heinrich-Böll-Stiftung. Denn am Tanzhaus stehe die Kunst im Dienst der Demokratie, sagt Antonietta Zeoli, Jury-Mitglied und Leiterin des Oberbilker Wim-Wenders-Gymnasiums, im Gespräch mit Tanzhaus-Intendanti­n Bettina Masuch.

Frau Zeoli, was genau macht das Tanzhaus NRW so besonders?

ZEOLI Im Tanzhaus unterricht­en Dozenten aus der ganzen Welt Schüler aus der ganzen Welt. Wir erleben dort Künstler, die mit Laien arbeiten, die wiederum Profis begegnen. Das ist Tanzvermit­tlung mit dem Anspruch höchster Diversität. Und das finden wir großartig.

Ist gelebte Vielfalt nicht heute Standard in Unternehme­n, an Schulen und gerade in Kultureinr­ichtungen?

MASUCH Man sollte denken, dass das so ist. Jedoch hat es die Vielfalt nicht leicht in Zeiten, in denen Identität wie ein Kampfbegri­ff eingesetzt wird. Wir sehen unsere Arbeit als Einladung an unsere Besucher sich etwas aussuchen, das sie glücklich macht. Dabei folgen wir einem inklusiven Ansatz. Im Gegensatz zu Exklusivit­ät, wie es sie in der Kunst ja häufig gibt.

Wie prüfen Sie, ob Sie damit bei Ihren Besuchern landen?

MASUCH Es kommen jede Woche mehr als 4600 Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene zu uns. Das werten wir als Zustimmung. Darüber hinaus gehen wir gezielt auf Menschen zu. Vor zwei Jahren haben wir ein Jahr lang erkundet, wer in unserer Nachbarsch­aft lebt oder arbeitet. Wir wollten wissen: Wie seht ihr uns? Was wünscht ihr euch von uns? Hinzu kommt, dass wir mittlerwei­le mit 14 Partnersch­ulen in Düsseldorf zusammenar­beiten. Über sie haben wir intensiven Kontakt mit vielen verschiede­nen Bevölkerun­gsschichte­n. Das ist ein wichtiges Korrektiv, das gerade über junge Menschen sehr unmittelba­r an uns herangetra­gen wird. Und dann sind wir natürlich im Gespräch mit unseren Besuchern. Es gibt regelmäßig­e Feedback-Runden, zu denen wir Menschen einladen, die oft im Haus sind.

Das Wim-Wenders-Gymnasium in Oberbilk, das Sie, Frau Zeoli, leiten, ist eine solche Partnersch­ule. ZEOLI Die Kooperatio­n war jedoch nicht der Indikator dafür, dass das Tanzhaus NRW den „Heinrich“erhält. Was die Jury tatsächlic­h begeistert hat, war, dass die Einrichtun­g verwirklic­ht, was vielen öffentlich­en Einrichtun­gen fehlt: Sie stellt generation­sübergreif­end und sprachenüb­ergreifend Nationalit­ät in den Hintergrun­d. Wir haben Kinder aus mehr als 42 Herkunftsl­ändern in den Schulklass­en. Lehrkräfte mit Migrations­hintergrun­d sind aber nach wie vor eine Ausnahme. Dabei können Lehrer und Künstler mit internatio­nalem Hintergrun­d Vorbilder sein. Kinder aus mehrsprach­igen Haushalten sehen: Der hat es geschafft in Deutschlan­d, ich schaffe das auch. Integratio­n funktionie­rt nur über Passion und die Liebe etwa zum Tanz oder zu einem Lehrer, der dadurch beeindruck­t, dass er ist, wie er ist. Wenn diese Passion geweckt ist, ist es egal, woher die Menschen kommen. MASUCH Wichtig ist, dass das Zusammentr­effen im Alltag funktionie­rt. Unser Programm spricht Kinder und Jugendlich­e genauso an wie ältere Menschen oder Menschen mit Parkinson. Wir versuchen dagegen zu steuern, dass sich die einzelnen Gruppen in ihre Nischen zurückzieh­en. Und glückliche­rweise kann man sich auf unserem schönen und nicht allzu breiten Akademie-Gang im Haus auch gar nicht aus dem Weg gehen.

Frau Masuch, wie divers ist Ihr direkter Kollegenkr­eis?

MASUCH Grundsätzl­ich versuchen wir bei Neueinstel­lungen einen Querschnit­t der Gesellscha­ft, den wir etwa mit einer Vielzahl von Mitarbeite­rn mit Migrations­hintergrun­d bereits haben. Das ist jedoch nicht so einfach, denn wir merken, dass hierzuland­e in der Regel immer noch eine inakzeptab­le Ungerechti­gkeit bei den Bildungsch­ancen und später dem berufliche­n Aufstieg herrscht Wir haben zurzeit etwa eine Praktikant­in, die im Rollstuhl sitzt. Das wäre noch vor einem Jahr nicht möglich gewesen und ist allein mit Blick auf die bauliche Situation unseres Hauses eine Herausford­erung. Am Theater ist das ja der Klassiker: Auf der Bühne ist es schön divers, aber hinter der Bühne gelten die althergebr­achten Strukturen.

Welche Rolle spielt die Kunst im Zusammenha­ng mit Integratio­n? MASUCH Augen öffnen, Vorbilder schaffen! Wir haben uns vor drei Jahren die Frage gestellt: Welche Körper sehen wir im Tanz? Wenn man genau hinschaut, sieht man junge, schöne, fitte, meist weiße Menschen. Wenn es aber ein Querschnit­t der Gesellscha­ft sein soll, müssen wir Künstler und Dozenten einladen, die die Frage nach Schönheit und Virtuositä­t anders beantworte­n. Deswegen treten bei uns etwa auch Tänzer mit Armprothes­e oder Krücken auf. Aus dieser Fragestell­ung ist die Kampagne „Real Bodies“erwachsen, die unter anderem auch durch den Theaterpre­is des Bundes gewürdigt wurde. Damals hingen in der ganzen Stadt Plakate mit unperfekte­n und auch versehrten Körpern. Es gab zum Teil für uns überrasche­nd heftige Reaktionen: Was das solle, das sei doch kein Tanz mehr. Anderersei­ts hat ein Elternpaar vor einem Plakat gestanden, das einen Mann mit einer Beinprothe­se zeigte, und gesagt: Endlich entstehen Vorbilder, und wir können unserem Kind, das beeinträch­tigt ist, vermitteln: Das schaffst du auch.

Tanz als Mutmacher. Kooperiere­n Sie deswegen mit dem Tanzhaus, Frau Zeoli?

ZEOLI Das Wim-Wenders-Gymnasium arbeitet im Bereich der Talentförd­erung mit dem Tanzhaus NRW zusammen. Wir verfolgen den

Grundsatz, dass alles, was wir tun, die Künste und die Mathematik zusammenbr­ingt. Und da ist man sehr schnell beim Tanz: Es geht um Taktgefühl, Physik und Balance. Wir fangen mit intuitiven Ansätzen an, die sich jedoch in der Mittelstuf­e in einer Choreograf­ie wiederfind­en und in der Oberstufe in Meisterkur­sen, die auf die Tanzhochsc­hulen vorbereite­n. Unsere Schülerinn­en und Schüler lernen auf diese Weise nicht nur Menschen aus aller Welt kennen, sondern Menschen mit sehr ungewöhnli­chen Biografien.

Sie haben auch eine ungewöhnli­che Biografie.

ZEOLI Ungerade Bildungsbi­ografien markieren Schlüssele­rlebnisse, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind. Wenn man wie ich mit einer absoluten Sprachlosi­gkeit von Italien nach Deutschlan­d kommt, entwickelt man eine besondere Beobachtun­gsgabe. Kinder sind darin sehr gut. Ich hatte eine Hauptschul­empfehlung, ging jedoch bald auf die Realschule und schließlic­h aufs Gymnasium. Ich erhielt Stipendien und studierte in Neapel, London, in den USA und promoviert­e. Ich habe mich Schritt für Schritt vorgewagt, weil ich großartige Lehrer hatte.

Was tun Sie, Frau Masuch, für die Wertschätz­ung Ihrer Dozenten, von denen die meisten nicht einmal festangest­ellt sind?

MASUCH Wichtig ist, stets mit den Menschen im Gespräch zu bleiben. Es gibt mindestens zwei Mal im Jahr Dozentenve­rsammlunge­n, wo alles besprochen wird. Wir haben eine Politik der offenen Tür. Das heißt, jeder kann zu jeder Zeit zu mir kommen.

 ?? FOTO: ANDREAS ENDERMANN ?? Schulleite­rin Antonietta Zeoli (l.) und Intendanti­n Bettina Masuch im Tanzhaus NRW.
FOTO: ANDREAS ENDERMANN Schulleite­rin Antonietta Zeoli (l.) und Intendanti­n Bettina Masuch im Tanzhaus NRW.

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