Als der Wagen nicht kam
In der Hitlerzeit flüchtete er nach Holland und ist dann dort umgekommen, ohne dass ich je die näheren Umstände erfahren konnte. Es war also ein recht vielfältiger und gewichtiger Apparat, der im Interesse der beiderseitigen Minderheiten in Oberschlesien aufgebaut war. Das hauptsächliche Gewicht, der eigentliche Minderheitenschutz, lag bei der Gemischten Kommission. Vor ihrer Anrufung musste sich der Beschwerdeführer an das Minderheitenamt wenden, das für Deutsch-Oberschlesien in Oppeln, für Polnisch-Oberschlesien in Kattowitz als innerstaatliche Behörde eingerichtet war. Das Minderheitenamt hatte die Pflicht, mit den Behörden über die Abstellung der Rechtsverletzung zu verhandeln und bei Misslingen dieses Versuchs die Beschwerde der Gemischten Kommission vorzulegen.
Eines Tages wird man an den Schutz der Minderheiten generell herangehen müssen, ohne den kein Frieden in der Welt eintreten kann. Es ist dann unvermeidbar, auf die versunkene und vergessene Arbeit der Gemischten Kommission zurückzugreifen, die das erste internationale Organ gewesen ist, das örtlich dem Rechtsschutz der Minderheiten diente. Als Minderheit im völkerrechtlichen Sinne werden Personenkreise angesehen, deren Unterscheidungsmerkmal von der Mehrheit im Lande völkischer, religiöser oder sprachlicher Art ist. Der Begriff der Minderheit ist nur gegeben in Nationalstaaten, in denen das Staatsvolk überwiegend aus einer geschlossenen Einheit besteht, die das staatliche Geschehen bestimmt. In den Nationalitätenstaaten wie der Schweiz bilden
verschiedene Völker zusammen das Staatsvolk im rechtlichen Sinne mit absoluter staatsrechtlicher Gleichberechtigung. Auch in Österreich – Habsburg ist immer der Hort des Rechts gewesen – sprach Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes von 1867 allen Volksstämmen des Staates Gleichberechtigung und ein unverletzliches Recht auf Pflege und Wahrung ihrer Nationalität und Sprache in Schule, Amt und öffentlichem Leben zu. Erst durch Österreichs Zerstörung ist das Minderheitenproblem überhaupt akut geworden.
Mit der Wortprägung ist nach dem Sprachgefühl bereits eine gewisse Minderbewertung verbunden, als ob ein Volkstum geringere natürliche Recht habe, weil es zufällig zu einem Staat gehört, in dem die Mehrzahl der Einwohner einem anderen Volk zugehört. Ich habe schon damals auf diesen Mangel in der Fundierung des Minderheitenrechts hingewiesen. Es freut mich heute, zu sehen, dass ich damals schon der Zeit voraus auf dem richtigen Wege war, als ich 1929 in meinem Buche „Das Minderheitenrecht in Oberschlesien“schrieb: „Das Naturrecht verlangt, dass das Minderheitsvolk in einem Nationalstaate in Bezug auf sein Volkstum nicht nur nicht unterdrückt wird, sondern dasselbe möglichst frei gestalten kann, soweit das nach den Grundsätzen der ausgleichenden Gerechtigkeit irgendwie mit den Interessen des Mehrheitsvolkes und des Staates vereinbar ist.
Dies ist bereits die äußerste ethisch und naturrechtlich tragbare Konzession an den Gedanken des demokratischen Mehrheitsinteresses und Mehrheitswillens, denn ein noch so kleiner Volksteil hat unveräußerliche natürliche Rechte, die ihm kein Staat und kein Interesse eines Mehrheitsvolkes nehmen kann, ohne brutales Unrecht zu tun. Der Mensch wird zunächst in seine Familie und sodann mit dieser in sein Volkstum hineingeboren, und erst vermittels dieser Beziehung tritt er in ein Verhältnis zum Staat. Der Staat kann also über das Volkstum der Menschen nicht nach Gutdünken verfügen, sondern umgekehrt ist das Volkstum die primäre unantastbare Unterlage, welche erst den Staat existent macht.
Der Staat ist nicht die Quelle des Rechts, sondern der Staat ist an das natürliche und göttliche Recht gebunden, und noch so gut formuliertes und von einer noch so erdrückenden Parlamentsmehrheit beschlossenes positives Recht, welches gegen Naturrecht und Gottes Gebot verstößt, ist Unrecht. Der Staat wurde im 19. Jahrhundert Selbstzweck, welcher sich über die natürlichen Rechte der Menschen und des Volkstums Zwangsbefugnisse anmaßte, so dass es geschah, dass der Kollektivindividualismus selbst wieder die Individualität der Einzelperson zerstörte.“
Gar lieblich müssen den Nazis diese und ähnliche meiner Worte geklungen haben, und sie haben sie ja auch entsprechend honoriert. Ich bin etwas stolz darauf, dass ich meine Räuberhöhlenansicht über den modernen Staat, die nicht nur für den Hitlerstaat Bedeutung hat, schon damals vertreten habe, aber schließlich ist es ja nichts als umformulierter kleiner römischer Katechismus, ohne den es sich eben schwieriger lebt.
Ein grundlegender Streit ging um die Art, wie sich die Zugehörigkeit eines Staatsbürgers zu einer Minderheit bestimmt. Liegt diese Bestimmung im Ermessen der Behörden des Mehrheitsstaates oder in der Erklärung des Staatsbürgers? Ich schrieb damals darüber: „Ein Volk ist eine Gesamtheit von Menschen, welches gewöhnlich dieselbe Sprache spricht und durch gemeinsame Abstammung oder geschichtliche Entwicklung ein gemeinsames geistiges Zusammengehörigkeitsgefühl erworben hat. Daraus ergibt sich, dass die Zugehörigkeit des einzelnen Menschen zu einem Volke, die natürlich mit Staatsangehörigkeit nichts zu tun hat, nur durch die subjektive Einstellung und Entscheidung des Betreffenden bestimmt werden kann. Über geistige Vorgänge kann aber nur der einzelne Mensch entscheiden, nicht eine dritte Stelle und am wenigsten der Staat.“
Diese deutliche Sprache richtete sich gegen Hitlers Rassenwahnsinn, in erster Linie aber gegen die Polen. Diese vertraten nachdrücklich die objektive Theorie. Sie wollten die Doppelsprachigkeit des Gebiets ausnutzen, um dann auf Grund manipulierter Sprachprüfungen oder gar nach der hinsichtlich des Volkstums völlig bedeutungslosen Form des Namens von Amts wegen zu bestimmen, wer der Minderheit angehöre und die entsprechenden Schutzrechte in Anspruch nehmen könne. Es sollte also der Bock zum Gärtner gemacht werden. Calonder stand eindeutig auf dem Boden der subjektiven Theorie.