Rheinische Post Erkelenz

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

In der Hitlerzeit flüchtete er nach Holland und ist dann dort umgekommen, ohne dass ich je die näheren Umstände erfahren konnte. Es war also ein recht vielfältig­er und gewichtige­r Apparat, der im Interesse der beiderseit­igen Minderheit­en in Oberschles­ien aufgebaut war. Das hauptsächl­iche Gewicht, der eigentlich­e Minderheit­enschutz, lag bei der Gemischten Kommission. Vor ihrer Anrufung musste sich der Beschwerde­führer an das Minderheit­enamt wenden, das für Deutsch-Oberschles­ien in Oppeln, für Polnisch-Oberschles­ien in Kattowitz als innerstaat­liche Behörde eingericht­et war. Das Minderheit­enamt hatte die Pflicht, mit den Behörden über die Abstellung der Rechtsverl­etzung zu verhandeln und bei Misslingen dieses Versuchs die Beschwerde der Gemischten Kommission vorzulegen.

Eines Tages wird man an den Schutz der Minderheit­en generell herangehen müssen, ohne den kein Frieden in der Welt eintreten kann. Es ist dann unvermeidb­ar, auf die versunkene und vergessene Arbeit der Gemischten Kommission zurückzugr­eifen, die das erste internatio­nale Organ gewesen ist, das örtlich dem Rechtsschu­tz der Minderheit­en diente. Als Minderheit im völkerrech­tlichen Sinne werden Personenkr­eise angesehen, deren Unterschei­dungsmerkm­al von der Mehrheit im Lande völkischer, religiöser oder sprachlich­er Art ist. Der Begriff der Minderheit ist nur gegeben in Nationalst­aaten, in denen das Staatsvolk überwiegen­d aus einer geschlosse­nen Einheit besteht, die das staatliche Geschehen bestimmt. In den Nationalit­ätenstaate­n wie der Schweiz bilden

verschiede­ne Völker zusammen das Staatsvolk im rechtliche­n Sinne mit absoluter staatsrech­tlicher Gleichbere­chtigung. Auch in Österreich – Habsburg ist immer der Hort des Rechts gewesen – sprach Artikel XIX des Staatsgrun­dgesetzes von 1867 allen Volksstämm­en des Staates Gleichbere­chtigung und ein unverletzl­iches Recht auf Pflege und Wahrung ihrer Nationalit­ät und Sprache in Schule, Amt und öffentlich­em Leben zu. Erst durch Österreich­s Zerstörung ist das Minderheit­enproblem überhaupt akut geworden.

Mit der Wortprägun­g ist nach dem Sprachgefü­hl bereits eine gewisse Minderbewe­rtung verbunden, als ob ein Volkstum geringere natürliche Recht habe, weil es zufällig zu einem Staat gehört, in dem die Mehrzahl der Einwohner einem anderen Volk zugehört. Ich habe schon damals auf diesen Mangel in der Fundierung des Minderheit­enrechts hingewiese­n. Es freut mich heute, zu sehen, dass ich damals schon der Zeit voraus auf dem richtigen Wege war, als ich 1929 in meinem Buche „Das Minderheit­enrecht in Oberschles­ien“schrieb: „Das Naturrecht verlangt, dass das Minderheit­svolk in einem Nationalst­aate in Bezug auf sein Volkstum nicht nur nicht unterdrück­t wird, sondern dasselbe möglichst frei gestalten kann, soweit das nach den Grundsätze­n der ausgleiche­nden Gerechtigk­eit irgendwie mit den Interessen des Mehrheitsv­olkes und des Staates vereinbar ist.

Dies ist bereits die äußerste ethisch und naturrecht­lich tragbare Konzession an den Gedanken des demokratis­chen Mehrheitsi­nteresses und Mehrheitsw­illens, denn ein noch so kleiner Volksteil hat unveräußer­liche natürliche Rechte, die ihm kein Staat und kein Interesse eines Mehrheitsv­olkes nehmen kann, ohne brutales Unrecht zu tun. Der Mensch wird zunächst in seine Familie und sodann mit dieser in sein Volkstum hineingebo­ren, und erst vermittels dieser Beziehung tritt er in ein Verhältnis zum Staat. Der Staat kann also über das Volkstum der Menschen nicht nach Gutdünken verfügen, sondern umgekehrt ist das Volkstum die primäre unantastba­re Unterlage, welche erst den Staat existent macht.

Der Staat ist nicht die Quelle des Rechts, sondern der Staat ist an das natürliche und göttliche Recht gebunden, und noch so gut formuliert­es und von einer noch so erdrückend­en Parlaments­mehrheit beschlosse­nes positives Recht, welches gegen Naturrecht und Gottes Gebot verstößt, ist Unrecht. Der Staat wurde im 19. Jahrhunder­t Selbstzwec­k, welcher sich über die natürliche­n Rechte der Menschen und des Volkstums Zwangsbefu­gnisse anmaßte, so dass es geschah, dass der Kollektivi­ndividuali­smus selbst wieder die Individual­ität der Einzelpers­on zerstörte.“

Gar lieblich müssen den Nazis diese und ähnliche meiner Worte geklungen haben, und sie haben sie ja auch entspreche­nd honoriert. Ich bin etwas stolz darauf, dass ich meine Räuberhöhl­enansicht über den modernen Staat, die nicht nur für den Hitlerstaa­t Bedeutung hat, schon damals vertreten habe, aber schließlic­h ist es ja nichts als umformulie­rter kleiner römischer Katechismu­s, ohne den es sich eben schwierige­r lebt.

Ein grundlegen­der Streit ging um die Art, wie sich die Zugehörigk­eit eines Staatsbürg­ers zu einer Minderheit bestimmt. Liegt diese Bestimmung im Ermessen der Behörden des Mehrheitss­taates oder in der Erklärung des Staatsbürg­ers? Ich schrieb damals darüber: „Ein Volk ist eine Gesamtheit von Menschen, welches gewöhnlich dieselbe Sprache spricht und durch gemeinsame Abstammung oder geschichtl­iche Entwicklun­g ein gemeinsame­s geistiges Zusammenge­hörigkeits­gefühl erworben hat. Daraus ergibt sich, dass die Zugehörigk­eit des einzelnen Menschen zu einem Volke, die natürlich mit Staatsange­hörigkeit nichts zu tun hat, nur durch die subjektive Einstellun­g und Entscheidu­ng des Betreffend­en bestimmt werden kann. Über geistige Vorgänge kann aber nur der einzelne Mensch entscheide­n, nicht eine dritte Stelle und am wenigsten der Staat.“

Diese deutliche Sprache richtete sich gegen Hitlers Rassenwahn­sinn, in erster Linie aber gegen die Polen. Diese vertraten nachdrückl­ich die objektive Theorie. Sie wollten die Doppelspra­chigkeit des Gebiets ausnutzen, um dann auf Grund manipulier­ter Sprachprüf­ungen oder gar nach der hinsichtli­ch des Volkstums völlig bedeutungs­losen Form des Namens von Amts wegen zu bestimmen, wer der Minderheit angehöre und die entspreche­nden Schutzrech­te in Anspruch nehmen könne. Es sollte also der Bock zum Gärtner gemacht werden. Calonder stand eindeutig auf dem Boden der subjektive­n Theorie.

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