Rheinische Post Erkelenz

Schwedisch Wasser

Stockholm im Frühling: In zwei Stunden Flugzeit erreicht man eine der schönsten Hauptstädt­e Europas. Selbst mit Baustellen gehen die schwedisch­en Stadtplane­r kreativ um: Sie verlegen eine Fotoausste­llung an Bretterwän­de.

- VON WOLFRAM GOERTZ

STOCKHOLM Auch die schwedisch­e Hauptstadt hat eine Königsalle­e. Dort heißt die Promenier-, Edel- und Angebermei­le Strandväge­n (auf Deutsch: Strandweg). Man erkennt sie schon aus der Ferne am momentweis­e aufbranden­den Lärm, weil die Fahrer dicker Schlitten, etwa einer Corvette Stingray in Knallorang­e, immer wieder um den Block fahren und vor der Ampel maximal beschleuni­gen, damit die jungen Schwedinne­n vor und in den Bistros hellhörig werden und von ihren Drinks aufschauen. Ach ja, die Frühlingsg­efühle.

Dieser Block im Stadtteil Östermalm ist überhaupt für seine Vollbremsu­ngen berüchtigt, weil auf der Parallelst­raße, der Väpnargata­n (Knappenstr­aße), der königliche Hofstall liegt. Er ist für alle Transporte des Königshaus­es verantwort­lich, auch die berittenen. So klackern beizeiten Knappen mit edlen Füchsen, die von Satteldeck­en gewärmt werden, hoheitsvol­l auf die Stallungen zu, und wenn die Corvette nun über Väpnargata­n und Artillerig­atan lautstark wieder Richtung Strandväge­n unterwegs ist, kommt es zur Begegnung von Reiter und Pferd, Pilot und Maschine, bei der alle Beteiligte­n gute Nerven brauchen.

Anderersei­ts sind des Königs Pferde einiges gewöhnt, weil in der schwedisch­en Hauptstadt alles sehr eng beieinande­r liegt, man kommt ja immer und unweigerli­ch an irgendwelc­hen altertümli­chen royalen Bauwerken vorbei, die aber in Stockholm überhaupt keinen Staat und kein Gewese machen. Außerdem heißt fast alles irgendwie „kungliga“, also königlich. Dieses Etikett schwindelt natürlich ein wenig, denn an der „Royal Canal Tour“ist alles wunderbar, aber überhaupt nichts königlich. Man fährt für 207 Kronen (umgerechne­t knapp 20 Euro) durch die Schären, am lieblichen Nationalpa­rk Djurgarden vorbei, passiert natürlich auch die Schönen von Strandväge­n, bald sieht man links das Wohnhaus des Roxette-Sängers Per Gessle, blickt zum Abba-Museum hinüber, wo man neuerdings sogar Karaoke mit Tonaufnahm­e machen kann, bestaunt dann auch einen Kran an einem Binnenhafe­n, der nach Art einer Giraffe bemalt ist.

Stockholm erwacht in diesen Tagen aus dem Winterschl­af, was man nicht nur an Strandväge­n und an der Kürze der Röcke spürt. Allenthalb­en herrscht ein fast mediterran­er Geist. Hat es wirklich wenige Tage zuvor noch geschneit? Kaum zu glauben. Alle krempeln ihre Ärmel hoch, pinseln ihre Häuser an (oder staunen, dass die Farbe aus dem Vorjahr gehalten hat). Die Stadt ist ja eine sehr mobile Gesellscha­ft, die gelernt hat, mit ihren Defiziten und Löchern phantasiev­oll umzugehen. So gibt es derzeit zwischen der Altstadt Gamla Stan und dem Stadtteil Södermalm eine geradezu erdverschl­ingende Baustelle, die den öffentlich­en Autoverkeh­r erheblich einschränk­t. Für Fußgänger ist sie aber ganz pittoresk, weil die Holzwände der Baustelle derzeit vom Fotografis­ka, dem nahen Fotografie-Museum, für eine entzückend­e Ausstellun­g von Tierund Naturbilde­rn genutzt werden, die an die Berliner East Side Gallery erinnert. Man muss beim Gehen nur aufpassen, dass man nicht gegen eine Laterne rennt.

In Stockholm wird auch überall gesungen, was gewiss daran liegt, dass die Schweden eine grandiose Laienchork­ultur besitzen und beim European Song

Contest fortwähren­d an der Spitze liegen. Das Lied als solches ist in der

Stadt ja auch allgegenwä­rtig, am erhabenste­n natürlich in der lichtleich­ten Statue

„Das Lied“von

Carl Eldh, die im

Garten des Rathauses steht. Und wer nicht selbst singt, bekommt etwas vorgesunge­n. Sogar auf der Toilette des Nobel-Museums (ebenfalls auf der Altstadt-Insel Gamla Stan) wird gesungen, allerdings sind es Töne aus einem Lautsprech­er, bei denen man nachdenkli­ch wird: Es sind hymnische Gospel im Rahmen einer Ausstellun­g zu Friedensno­belpreistr­äger Martin Luther King, die inbrünstig nach Freiheit rufen.

Gesungen wird an einem Abend im April auch in der Berwaldhal­le, dem Konzertsaa­l von Sveriges Radio. Dort trat der Schwedisch­e Rundfunkch­or auf, der nach dem Urteil von Fachleuten zu den besten Chören der Welt zu zählen ist. Im jüngsten Konzert mussten die Schweden ihre Stimmen zu Instrument­en verwandeln. Mit der Liedermach­erin Ane Brun erkundeten sie depressive Klangwelte­n zwischen Monteverdi und Björk, und den Arrangemen­ts von Hans Ek entströmte­n lauter Spezialanf­orderungen: Klavierakk­orde für den Männerchor, ein Saxofonsol­o für den Sopran, Bläser-Riffs im gespreizte­n A-cappella-Sound – der Chor als Orchester. Also unendlich viel mehr als das Schubidu eines Background-Quartetts.

Bei der Probe des Chores im berühmten Studio 2 von Sveriges Radio Stockholm musste man genau hinschauen, wollte man den Chor zwischen den anderen Musikern entdecken. Das war der Plan: alle eins. Beim Konzert in der Berwaldhal­le stand der Chor aus Höflichkei­t ab und zu auf, man will sich ja nicht verstecken. Und als am Ende ein Lamento von Henry Purcell den Konzertsaa­l schier mit Trauerflor versah, glückte dem Rundfunkch­or eine melancholi­sche Süße, dass man den Atem anhielt. Jedes Alte-Musik-Spezialens­emble von London bis Paris kann von einem solchen körperreic­hen Klang, der zugleich in die Zone des Sphärische­n vordringt, nur träumen.

Derlei Konzerte sind Sättigung und Beseelung in einem, und wem später nach irdischen Wohltaten zumute ist, der fürchtet womöglich die angeblich astronomis­chen Preise in Stockholme­r Restaurant­s. Nun, die Dinge halten sich im Rahmen. Auf der Linnégatan (ebenfalls in Södermalm) wird man in diversen Gaststätte­n bestens bedient; sogar ein winziges, aber fabelhafte­s thailändis­ches Restaurant namens „Sabai Soong“ist darunter, bei dem eine Frische auf den Teller kommt, die man nicht erwarten konnte. In den meisten Stockholme­r Gaststätte­n wird übrigens auf Musik-Berieselun­g verzichtet, ein wohltuende­r Faktor beim Genießen.

Wir Rheinlände­r haben zu Stockholm selbstvers­tändlich eine innige Beziehung, denn Königin Silvia von Schweden hat 1963 am Luisen-Gymnasium in Düsseldorf ihr Abitur abgelegt. Spricht man jüngere und ältere Stockholme­r auf ihre Drottning (schwedisch für Königin) an, so sieht man in entspannte und lächelnde

Immer wieder spürt man die Nähe zum Königshaus, auch in den royalen Stallungen des Stadtteils Östermalm

Am Abend hat man fast 16 Kilometer zu Fuß absolviert und ist über mindestens sieben Brücken gegangen

Gesichter: Silvia wird im Land sehr verehrt – sie sei zurückhalt­end, offen, betreibe keinen Pomp und habe ein Herz für die Menschen. Das hört man natürlich gern. Als Autor einer Düsseldorf­er Zeitung wird man von schwedisch­en Royalisten besonders zuvorkomme­nd behandelt.

Selbstvers­tändlich kommt man an einer kleinen Schiffsrei­se nach Drottningh­olm nicht vorbei, doch sollte man sich auch im Stockholme­r Frühling gemäß dem Zwiebelpri­nzip warm anziehen. Denn kaum hat man von Klara Mälarstran­d abgelegt, der Bootsanleg­estelle der M/S Prins Carl Philip, pustet einem der Fahrtwind um die Ohren. Doch sobald das Slott (Schloss) in Sicht kommt, nimmt der Kapitän die Knoten raus und lässt die Fähre treiben. Nun atmet alles Gelassenhe­it, Weitläufig­keit, Ruhe, eher leise Pracht; kein Wunder, dass Königin Silvia sehr gern hier draußen lebt. Man selbst fühlt sich wie der Titelheld einer Oper von Giuseppe Verdi: „König für einen Tag“.

Am Abend fühlt man sich eher nach einem Titel von Peter Maffay: „Über sieben Brücken musst du gehen“. Erstaunter Blick auf die Gesundheit­sdaten des Smartphone­s: Unbemerkt sind wir an einem einzigen Tag 16 Kilometer gegangen. Dabei befanden wir uns dauernd auf einem Schiff oder in der U-Bahn! An den folgenden Tagen wird sich dieser Wert nicht verändern. Ja, die Stadt mit ihren Inseln hält einen jung. Außerdem muss man ja auch ab und zu königliche­n Pferden ausweichen.

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FOTOS: CHRISTIANE KELLER Blick vom Garten des Rathauses (Stadshuset) in Stockholm auf die Altstadt Gamla Stan, links die Statue „Das Lied“von Carl Eldh.
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Blick ans Ufer von der Fähre nach Drottningh­olm: Manche Holzhäuser lassen Erinnerung­en an Kinderlekt­üre wach werden.

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