Rheinische Post Erkelenz

Der Horror nebenan

Die Gerichtsme­dizinerin Sibylle Banaschak hat sich auf Fälle von Kindesmiss­handlungen spezialisi­ert. Ihr grauenhaft­er Alltag bleibt der Öffentlich­keit weitgehend verborgen. Ein Blick hinter die Kulissen der Kölner Rechtsmedi­zin.

- VON THOMAS REISENER

KÖLN An ihren ersten Einsatz als Expertin für Kindesmiss­handlung erinnert Sibylle Banaschak sich noch genau. Mitte der 90er Jahre in Münster, Banaschak hatte sich längst einen Ruf als gestandene Gerichtsme­dizinerin erarbeitet, legte sie dem Gericht ihr Gutachten vor: Der Angeklagte muss das Kind mit dem Kopf in heißes Wasser getaucht haben. Anders seien die Verletzung­en des Kindes nicht zu erklären. „Das Gericht hat ihn freigespro­chen, weil ein anderer Gutachter gesagt hatte, dass es auch ein Unfall hätte sein können“, sagt Banaschak. Sie blickt aus dem Fenster. „Ich glaube noch heute, dass es kein Unfall war.“

Sind die blauen Flecken Folgen eines Sturzes oder von roher Gewalt? Hat der kleine Junge sich den Arm wirklich gebrochen, als er sich im Gitterbett verhakt hat? Und was ist mit dem kleinen Mädchen, das sich seit einigen Tagen zurückzieh­t und kaum noch isst? Wurde es sexuell missbrauch­t?

Weit mehr als 100 Mal pro Jahr muss Sibylle Banaschak solche Fragen beantworte­n. Und ab Mai noch öfter. NRW-Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat der Vize-Chefin des Instituts für Rechtsmedi­zin an der Kölner Uniklinik eine ebenso bedrückend­e wie notwendige Aufgabe übertragen. Die 50-Jährige leitet künftig ein Zentrum für Kinderschu­tz, das Ärzte in ganz NRW bei Verdacht auf Missbrauch oder Misshandlu­ng von Kindern berät.

Ob der Fall in Münster sie frustriert habe? Banaschak rückt ihren Drehstuhl von einem mit Akten und Ausdrucken übersäten Schreibtis­ch ab. Er ist viel zu groß ist für das winzige Büro in einem schmucklos­en Zweckbau am Rande des Kölner Melaten-Friedhofes. Ein paar Räume weiter stehen die Seziertisc­he der Kölner Rechtsmedi­zin, auf denen Banaschak und acht weitere Ärzte rund 800 Leichen pro Jahr untersuche­n. „Nein“, sagt sie, „wenn man das Böse jagen will, muss man Polizist werden.“

Rechtsmedi­ziner seien „Wissenscha­ftler, die unaufgereg­t die Frage klären: Was ist passiert?“Und dann rutscht der zweifachen Mutter eine Bemerkung heraus, die ahnen lässt, dass ihr Blick auf die Schrecken ihres Arbeitsall­tages doch nicht so unaufgereg­t ist: „Wenn wir diese Frage nicht klar bekommen, kann es nochmal passieren.“

Sie sagt: „klar bekommen“, wenn sie „klären“meint, und Augen sind für sie schon mal „Gucksteine“. Sibylle Banaschak hat in Bochum studiert. „Mein Grönemeyer-T-Shirt habe ich noch.“Man kann kaum glauben, dass solche Sätze aus demselben Mund kommen, der wenige Minuten zuvor noch den Horror einer Wirklichke­it beschriebe­n hat, die nur wenige Menschen kennen.

„Auf den ersten Blick sah das wie ein normales Familiendr­ama aus“, berichtet Banaschak von einem Einsatz, der sie bis heute verfolgt: „Vater bringt erst seine Familie um und dann sich selbst.“Die Ermittler gingen davon aus, dass der Täter sein Kind mit einem Hammer erschlug. Erst die Rechtsmedi­zinerin stellte an dem toten Kinderkörp­er später Abwehrspur­en fest. „Da wusste ich, das Kind hatte sich noch gewehrt“, sagt Banaschak. Sie schluckt. „Das bedeutet: Dieses Kind hat alles mitbekomme­n.“

Für 2017 weist die Kriminalst­atistik allein in NRW mehr als 9200 Fälle von Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e aus. Die Jugendämte­r wurden in fast 40.000 Fällen wegen Verdachtsf­ällen auf Gefährdung des Kindeswohl­s tätig. Manche Fälle, in denen die Ärzte Rat bei Banaschak suchen, sind nicht medizinisc­her Natur. „Da bekomme ich einen Anruf von einem Kollegen, der in größter Not war“, erzählt die Medizineri­n. Der Befund war klar: Ein Kind mit vielen Knochenbrü­chen, einer frisch, die anderen verheilt. „Dass das eine Folge schwerer Misshandlu­ng war, ist klar“, sagte Banaschak. Aber ihr Kollege hatte ein ganz anderes Problem. Der Vater des Kindes war Chefarzt am selben Krankenhau­s.

Dass nur die schlecht gebildeten Eltern am Rande der Gesellscha­ft ihre Kinder misshandel­n, dieses Vorurteil hat Sibylle Banaschak längst begraben: „Die sind nur nicht so einfallsre­ich im Erfinden von Erklärunge­n für die Verletzung­en.“Trotzdem kommen Rechtsmedi­ziner auch raffiniert­en Tätern aus gehobenen Schichten immer wieder auf die Spur. Öfter als Kinderärzt­e, die auf andere Themen spezialisi­ert sein müssen. „Wir fragen anders“, sagt Banaschak. Wenn ein Kinderarzt sich bei einem Rippenbruc­h mit der Erklärung „aus dem Tragetuch gerutscht“zufrieden gibt, wollen Rechtsmedi­ziner wissen: Wie wurde das Kind denn genau getragen? Passt die Verletzung zu der Erklärung?

Die Erklärung „Kind ist aus Hochbett gefallen“für eine enorme Beule an der Stirn einer kleinen Patientin mochte bei einem Fall in der Unfallaufn­ahme noch durchgehen. Trotzdem hatte der behandelnd­e Arzt ein komisches Bauchgefüh­l und rief Banaschak an. Die Rechtsmedi­zinerin wusste: „Gesunde Kinder fallen nicht einfach so aus dem Hochbett.“Sie empfahl eine Blutunters­uchung. Erst bei der Patientin, und danach bei den 13 weiteren Kindern, die die Mutter von mehreren Männern hatte. So fand Banaschak heraus: „Die haben den Kindern nachts immer Schlafmitt­el und Psychophar­maka gegeben, damit Ruhe ist.“

Und was kann man gegen die Misshandlu­ng von Kindern unternehme­n, wenn man nicht zufällig Arzt oder gar Rechtsmedi­ziner ist? „Die Eltern offen ansprechen, wenn man einen Verdacht hat“, rät Banaschak. Eine verärgerte oder gar aggressive Reaktion müsse man einkalkuli­eren, weil auch misshandel­nde Eltern sich oft im Recht sähen. Aber die direkte Ansprache sei trotzdem der richtige Weg: „Wer es gut mit seinem Kind meint, weiß das Engagement letztlich auch zu schätzen.“

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Bevor Banaschak Kinder untersucht, erklärt sie an Puppen, was passiert. Auch die Untersuchu­ng von Knochenbrü­chen gehört zu ihrem Alltag.
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FOTOS: HANS-JÜRGEN BAUER

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