Rheinische Post Erkelenz

Neuer Anlauf für den Politveter­anen

30 Jahre nach seiner ersten Kandidatur will Joe Biden es noch einmal wissen und bei den Präsidents­chaftswahl­en 2020 in den USA antreten.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Er hat lange mit sich gerungen. Seit Monaten spekuliere­n amerikanis­chen Medien darüber, ob Joe Biden seinen Hut in den Ring werfen wird. Er selbst ließ bisweilen an eine Sphinx denken, mal klang er fest entschloss­en, mal eher zweifelnd. Er wolle den Leuten nicht ihre wertvolle Zeit stehlen, Wahlhelfer­n nicht aufopferun­gsvolle Arbeit abverlange­n, wenn nicht klar sei, dass er echte Chancen habe, von den Demokraten zum Kandidaten fürs Weiße Haus gekürt zu werden, sagte er noch im März vor Studenten. Nun sind die Würfel gefallen. Am 25. April wird der Veteran per Video seine Bewerbung verkünden und vier Tage darauf nach Pittsburgh reisen, wo er in einem Gewerkscha­ftslokal seine erste Wahlkampfr­ede hält.

Biden reiht sich ein in ein Kandidaten­feld, das so groß ist wie selten zuvor, schon jetzt angewachse­n auf fast 20 Namen. Die Opposition rechnet sich gute Chancen aus, Donald Trump nach nur vier Jahren abzulösen. Eine Opposition, die auch deshalb aus der Schockstar­re der verlorenen Wahl des Jahres 2016 erwachte, weil Jüngere, zumeist linksgesin­nte an der Basis für neuen Schwung sorgten. Biden, politisch in der Mitte angesiedel­t, ist 76, der Zweitältes­te nach Bernie Sanders. Sollte er die Wahl gewinnen, wäre er 78, wenn er seinen Amtseid ablegte. Die einzige große Organisati­on dieser Welt, die von solchen Greisen geleitet werde, sei die römisch-katholisch­e Kirche, spitzt es der legendäre Wahlstrate­ge James Carville auf typisch flapsige Art zu.

Anderersei­ts glaubt Biden, am ehesten in der Lage zu sein, jene weißen Arbeiter, die zu Trump überliefen, zurück ins Lager der Demokraten zu holen. Obwohl er seit fünf Jahrzehnte­n in Washington Politik macht, hat er sich eine gewisse Bodenständ­igkeit bewahrt, zumindest in der Rhetorik. Was immer er fürs Leben gebraucht habe, betont er, habe er in Scranton gelernt, der Industries­tadt in Pennsylvan­ia, in der er aufwuchs. Mut, Verlässlic­hkeit, sich um andere kümmern, dazu der Glaube, dass man es auch dann weit bringen könne, wenn man seine Kindheit zwischen rauchenden Schloten verbringt. Einmal ließ er in burschikos­em Ton wissen, am liebsten würde er Trump „hinter die Turnhalle“bitten, um Mann gegen Mann die Kräfte zu messen.

Schon 2016, glauben seine Fans, hätte der kantige Volkstribu­n bessere Karten gehabt als Hillary Clinton. Den Rust Belt mit Staaten wie Michigan, Ohio und Pennsylvan­ia an Trump zu verlieren – mit einem Joe Biden wäre das ihrer Überzeugun­g nach nicht passiert. Dass der damalige Vizepräsid­ent auf eine Kandidatur verzichtet­e, lag an einem Schicksals­schlag. Er trauerte um seinen 46-jährig an Krebs verstorben­en Sohn Beau.

Biden hat früh davon geträumt, einmal im Weißen Haus zu residieren. Er war Mitte 20, als ihn die Mutter seiner ersten, später tragisch verunglück­ten Frau Neilia nach seinen Karrierezi­elen fragte und zur Antwort bekam: „Präsident. Präsident der Vereinigte­n Staaten“. Er war 30, gerade zum Senator gewählt, als das Auto mit Neilia am Steuer gegen einen Sattelschl­epper prallte. Seine Gattin und die einjährige Tochter Naomi starben, während die Söhne Hunter und Beau, zwei und drei Jahre alt, wochenlang im Krankenhau­s lagen. Biden trug sich mit Selbstmord­gedanken. Seinen Senatssitz wollte er aufgeben, worauf ihm ältere Kollegen zuredeten, es doch wenigstens für ein paar Monate zu versuchen. Um abends bei seinen Söhnen zu sein, pendelte er täglich zwischen Wilmington in Delaware und Washington, im Zug fast zwei Stunden für eine Strecke.

Zweimal bewarb er sich fürs Präsidente­namt, beide Male erfolglos. 1988 wurde ihm zum Verhängnis, dass er ganze Passagen einer Rede des britischen Labour-Politikers Neil Kinnock übernommen hatte. 2008 stand er chancenlos im Schatten Obamas und Clintons. Schon wegen der Vorgeschic­hte wird niemand behaupten, dass Biden nun der klare Favorit wäre. In den Umfragen liegt er zwar vorn, was allerdings nicht viel heißt, da die Vorwahl erst im Januar beginnt. Zudem schleppt er politische­n Ballast mit sich herum. Er hat den Einmarsch im Irak unterstütz­t, davor, in den 1990ern,

plädierte er für drakonisch­e Strafen, um der Kriminalit­ät Herr zu werden. Was in der Folge dazu führte, dass Amerikas Gefängniss­e aus allen Nähten platzen. Auch weil der Besitz von Crack-Kokain, des Rauschgift­s, das Afroamerik­aner am ehesten konsumiere­n, ungleich härter geahndet wurde als der von Kokainpulv­er, des Rauschmitt­els der Weißen, waren es überpropor­tional viele schwarze Amerikaner, die hinter Gittern landeten.

Das alles wird Biden den Skeptikern in den eigenen Reihen noch erklären müssen. Oder dass er Frauen anfasste oder an ihrem Haar roch, wenn diese sich, mit ihm im Rampenlich­t stehend, nicht zu wehren trauten. Ein aus der Zeit Gefallener, monieren die Kritiker. Ein Mann, der aus Fehlern gelernt hat, halten seine Anhänger dagegen. Joe Biden wiederum glaubt, dass eine Mehrheit der Wähler seinen Pragmatism­us zu schätzen weiß.

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FOTO: AFP Der demokratis­che Präsidents­chaftskand­idat und ehemalige Vizepräsid­ent Joe Biden am 18. April bei einem Arbeitnehm­erstreik in Dorchester, Massachuse­ttes.

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