Als der Wagen nicht kam
Die Frage wurde dann vor den Völkerbundsrat gebracht, und es gab einen bedauerlichen Kompromiss im März 1927 in Genf, demzufolge der Schweizer Schulexperte Maurer aus Luzern die von den Polen als nichtdeutschsprachig beanstandeten Kinder zwei Jahre lang auf ihre Sprachkenntnisse prüfen sollte. Maurer machte das auch sehr korrekt und mit großer Mühe. Abgesehen vom Bruch des Grundsatzes litten diese Prüfungen darunter, dass die oberschlesischen Kinder das Schweizerdeutsch des Herrn Maurer nicht verstanden, was zu den seltsamsten Missverständnissen führte, aus denen Maurer dann auf mangelnde deutsche Sprachkenntnisse schloss. Calonder war empört darüber, dass das Deutsche Auswärtige Amt diesem Kompromiss zugestimmt hatte. Ebenso erkannte die deutsche Minderheit, dass hiermit ein tödlicher Schlag gegen ihren Bestand geführt worden sei. Ich wirkte dann auf Ulitzka und den aus Münster stammenden Breslauer Reichstagsabgeordneten, den späteren Reichskanzler Heinrich Brüning ein, deren Bemühen es zu danken war, dass das Auswärtige Amt sich fügen musste und die Sache vor den Internationalen Gerichtshof im Haag gebracht wurde. Dessen Entscheidung vom 26. April 1926 war recht kompliziert. Sie legte die objektive Theorie zu Grunde, machte Ausnahmen zu Gunsten der subjektiven Theorie für die Fälle der nationalen Mischehe, der Doppelsprachigkeit und des Dialekts. Auf jeden Fall aber hielt sie das Verbot der Nachprüfung der Erklärung aufrecht, sanktionierte also letztlich ein Recht zur Abgabe falscher Erklärungen. Die Polen nutzten die Kompliziertheit
der Entscheidung natürlich aus zur Zurückweisung von Kindern aus der Minderheitsschule. Im Laufe des Jahres 1929 fanden in Paris mehrfach Verhandlungen zwischen einer deutschen und polnischen Delegation statt, in denen die Gegensätze mühselig durch Festlegung von Einzelheiten über die Sprachenerklärungen überbrückt wurden. Ich nahm an den Verhandlungen teil, ebenso Calonder und Morawski. Den Vorsitz führte der japanische Botschafter in Paris Adatci, der Japan im Völkerbundsrat vertrat und den man zum Vorsitzenden des Minderheitenausschusses des Völkerbundsrats gemacht hatte. Ausgerechnet ein Japaner musste sich also mit europäischen Minderheitenfragen befassen. So absurd das scheint, war die Lösung nicht schlecht. Adatci war juristischer Professor und später Richter in der Cour im Haag. Seine offenkundige Rechtlichkeit und die kühle Nüchternheit seiner Verhandlungsführung waren für das Ergebnis bestimmend.
Zur Feststellung von Rechtsverletzungen waren an Ort und Stelle die Gemischte Kommission und in beschränktem Umfang das Schiedsgericht in Beuthen vorhanden. Es war das erste Mal, dass örtliche, zwischenstaatliche Einrichtungen für solche Zwecke geschaffen wurden und dass ihre Anrufung dem Staatsbürger offen stand, während früher internationale Gerichte wie der Gerichtshof im Haag nur von den beteiligten Staaten, nicht aber von Privatpersonen angerufen werden konnten. In diesem Einbruch in das staatssouveräne Denken lag ein bedeutender Fortschritt für die Entwicklung des Völkerrechts.
Die Bürokratie wollte einfach an die Vertretung der Minderheitenbeschwerden nicht heran, weil sie Last machten und kein Ruhm dabei zu ernten war. Man verkannte auch ihre Bedeutung, weil man in staatlichen Kategorien dachte und jedes Gespür für den Begriff des Volkstums fehlte. Eine innere Beziehung zu diesem bestand beim Zentrum. Alles, was in Genf zur Durchsetzung der deutschen Minderheitenbeschwerden erreicht worden ist, beruht auf dem Druck, den die drei Prälaten Ulitzka, Schreiber und Kaas auf das Auswärtige Amt ausgeübt haben, und Brüning ist als Kanzler und später auch Außenminister der einzige Minister gewesen, der mit innerer Überzeugung und ohne Ausweichen in Phrasen sich der Völkerbundsbeschwerden und überhaupt der Frage des deutschen Volkstums im Ausland angenommen hat. Ganz besonders fühlte er sich hierzu berufen als in Schlesien gewählter Abgeordnete. Ich bin öfter bei ihm in der alten Reichskanzlei zu Tisch gewesen, wo es zwar gepflegt, aber sehr bescheiden herging, abgesehen von sauberem Wein. Da ich wegen seines schlesischen Wahlkreises und unserer gemeinsamen Herkunft aus Münster besondere Beziehungen zu ihm hatte, konnte ich ein freies Wort mit ihm sprechen. So habe ich ihm einmal bei einem gemeinsamen Gespräch mit Lukaschek gesagt, das Einzige, was ihm fehle, sei jeden Morgen eine halbe Flasche Sekt zum ersten Frühstück.
Doch kehren wir zum Ausgangspunkt des Exkurses über Brüning zurück, nämlich zu der Förderung der Beschwerden der deutschen Minderheit im Völkerbundsrat. Die Minderheit wurde durch die Mängel des Genfer Systems sehr benachteiligt, weil durch deren Ausnutzung die Ausführung der Entscheidungen der Gemischten Kommission zumindest so verschleppt werden konnte, dass sie an Bedeutung verloren oder überhaupt gegenstandslos wurden. Für Calonder, dessen Entscheidungsfreudigkeit sowieso nicht sehr groß war, bot die Genfer Misswirtschaft willkommenen Anlass, meinem Drängen den Einwand entgegenzusetzen, es sei ja zwecklos, neue Stellungnahmen herauszugeben; die deutsche Regierung solle erst einmal sorgen, dass in Genf die schwebenden Sachen prompt und rechtlich erledigt würden. Schließlich wurde es ihm aber auch zu bunt, und er äußerte nach Berlin den Wunsch, ich möge zu den Ratstagungen mit nach Genf fahren, um die deutsche Delegation zu beraten, das heißt auf Erledigung zu drängen. Die deutsche Minderheit trug dasselbe Verlangen an Prälat Ulitzka heran, und so blieb dem Auswärtigen Amt nichts übrig, als zähneknirschend meiner Anwesenheit und Beteiligung in Genf zuzustimmen. So war ich von 1927 bis Herbst 1932 bei fast allen Völkerbundsratstagungen anwesend, um die Dinge hinter den Kulissen zu betreiben. Ich wohnte mit der deutschen Delegation zusammen im Hotel Metropole, so dass man mir nur schwer ausweichen konnte. Ich habe die Herren des Auswärtigen Amtes, die ja schließlich auch andere Sorgen hatten, zu Tode geelendet, und wenn sie wieder einmal nachgeben wollten, damit gedroht, das nächste Mal werde Ulitzka selbst mit nach Genf fahren.