Grundrente mit Sprengkraft
In der Endphase des Europawahlkampfs haben sich Union und SPD so zerstritten, dass die Rückkehr zur Normalität schwierig wird.
BERLIN Für die Union war es einer der unangenehmeren Abende. Am Dienstag kurz vor 20 Uhr ging die SPD mit ihrem Konzept der Grundrente in die Offensive. Die Papiere trudelten bei der Union ohne große Vorwarnung ein, während die Nachricht in Agenturen und sozialen Netzwerken schon heißlief.
Den Parteispitzen von CDU und CSU war zwar klar, dass der Koalitionspartner vor dem großen Wahlsonntag noch das brisante Thema zünden würde, aber die Wucht und das Vorgehen haben sie doch erst einmal nach Luft schnappen lassen. Es dauerte jedenfalls ein Weilchen, bis erste Unionssozialexperten den SPD-Gesetzentwurf zu einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung und mit einer Teilfinanzierung durch ungesicherte Steuereinnahmen in Grund und Boden stampften. Auch dass die SPD die sogenannte Mövenpicksteuer zur Gegenfinanzierung ihrer milliardenschweren Pläne noch einmal aus der Mottenkiste gezogen hat, musste im Adenauerhaus erst einmal verdaut werden. Die große Frage ist nun wieder: Hält die Koalition?
Bei der Grundrente jedenfalls geht es um viel mehr als um die Grundrente an sich. Es geht um das neue sozialpolitische Profil der SPD, um ihren Überlebenskampf und um ein lebensnahes Thema, das sich auch noch für die Wahlkämpfe in den ostdeutschen Bundesländern ausschlachten lässt. Die Umfragewerte für die Sozialdemokraten sehen düster aus. Bei der Europawahl am Sonntag müssen sie mit einem Absturz um zehn Prozentpunkte rechnen. In ihrer einstigen Hochburg Bremen liegt mittlerweile die CDU deutlich vor ihnen. Eine Sensation für die Schwarzen in der roten Hansestadt. Sollte die SPD erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nicht den Bürgermeister stellen, könnte das auch schwer auf die Stimmung in der großen Koalition drücken.
Die Union hat auch nichts mehr zu verschenken. Sie könnte um bis zu sieben Prozentpunkte bei der Europawahl abstürzen. Für CDU und CSU geht es bei der Grundrente um ihre Glaubwürdigkeit, nicht bei jeder sozialpolitischen Forderung des Koalitionspartners am Ende nachzugeben, einzuknicken und Kompromisse gegen die eigene Überzeugung zu schließen. Es geht auch um den neuen Kurs von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die so bemüht ist, den Wirtschaftsflügel einzubinden und ihren Dampfer in die Fahrrinne Investitionen statt Sozialausgaben zu steuern.
Aus dem Umfeld von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verlautet, sie nehme den Streit sehr ernst, aber sie glaube auch fest daran, dass sich CDU und CSU durchsetzen werden. Denn sie pocht auf den Koalitionsvertrag. Und darin steht – 2018 einmütig vereinbart –, dass es für die Grundrente eine Überprüfung geben muss, wer wirklich bedürftig ist. Und da ist sich Merkel mit der CDU-Chefin und dem CSU-Vorsitzenden Markus Söder auch einig. So erklärte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak am Mittwoch selbstbewusst: „Deswegen kann ich heute sagen: Dieser Entwurf, so wie ihn Hubertus Heil vorgestellt hat, wird mit der Union nicht zu machen sein. Dieser Entwurf wird den Deutschen Bundestag nicht passieren.“
Ziemiak rief den Bundesarbeitsminister dazu auf, „nicht jetzt ein Wahlkampfmanöver zu fahren, nur weil am Sonntag in Deutschland gewählt wird“. Heil müsse seinen Vorschlag so überarbeiten, dass er dem Koalitionsvertrag entspreche. Es sei unseriös, dass er in die gesetzliche Krankenversicherung greifen wolle. Der Arbeitsminister wiederum zeigte sich ungerührt von der Wut des Koalitionspartners. „Ich mache diesen Gesetzentwurf nicht für Wahlen, sondern für drei Millionen Menschen.“Zugleich kündigte er an, dass die Diskussion um die Grundrente weit über den Wahltermin hinausreichen werde.
Der Streit birgt enorme Sprengkraft. Die Grundrente soll nach den Plänen des Arbeitsministers erst
2021 wirksam werden – im Jahr der regulär nächsten Bundestagswahl. Es gibt also keine Eile, sich schnell auf einen Kompromiss zu verständigen. Damit dürfte die Grundrente mindestens bis nach den Landtagswahlen im Osten ein Stachel im Fleisch der großen Koalition bleiben.
Ein politisches Risiko. Davor warnt der Meinungsforscher Manfred Güllner, der sogar für die Sozialdemokraten die größeren Gefahren in diesem mit so viel Inbrunst ausgetragenen Streit sieht. „Die Menschen werden das Grundrenten-Konzept der SPD als durchsichtiges taktisches Wahlkampfmanöver erkennen“, sagte Güllner unserer Redaktion. „Auch langfristig wird es als Gewinnerthema für die SPD verpuffen. Denn die Grundrente betrifft zu wenige. Das war auch beim Mindestlohn und der Rente mit 63 so“, betont Güllner. Zudem schade die SPD so kurzfristig vor der Europawahl beiden Koalitionspartnern, weil die Wähler generell Streit nicht goutierten.