Rheinische Post Erkelenz

Streitgesp­räche bei Kaffee und Kuchen

- VON EVA QUADBECK

Zum 70. Geburtstag des Grundgeset­zes hat der Bundespräs­ident 200 Bürger ins Schloss Bellevue eingeladen – auch vier RP-Leser.

BERLIN Der Rasen saftig grün und kurz geschnitte­n, die Sonne strahlt, und vor blühenden Rhododendr­en nimmt die Gesellscha­ft an großen runden Tischen mit weißen Tüchern Platz. So hübsch das Ambiente vor dem Schloss Bellevue auch ausfällt, bei der „Geburtstag­skaffeetaf­el“des Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier zur Feier von 70 Jahren Grundgeset­z geht es ans Eingemacht­e.

Die Sorge um den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft steht bei den 200 Bürgern, deren Bewerbung für die Kaffeetafe­l erfolgreic­h war, im Mittelpunk­t. Sie alle haben eine Botschaft mitgebrach­t, die sie nun formuliere­n. Bildung, Gesundheit, Wohnen, Stadt-Land-Gefälle, Ost/ West sind die wichtigste­n konkreten Themen. Steinmeier geht von Tisch zu Tisch und hört zu.

„Ich möchte dem Präsidente­n sagen, dass die Jugend sehr politisier­t ist“, sagt Christoph Ruhs aus Haan-Gruiten kurz vor dem offizielle­n Beginn. Es sei nicht nur die „Fridays for Future“-Bewegung. Schon beim Thema G8 oder G9 in NRW sind die Betroffene­n aus seiner Sicht nicht gehört worden. „Wir waren immer für G8. Die Eltern haben uns überstimmt.“Für einen wie den Youtuber Rezo, der in derber Sprache gegen die klassische­n Parteien wettert, hat der 20-jährige Jurastuden­t mit Anzug und Krawatte Verständni­s. Nicht, weil er alles inhaltlich teilt. Er sagt aber: „Wir müssen alle Mittel nutzen, um auf uns aufmerksam zu machen.“In der Politik drehe sich viel zu viel um die Renten. Er spricht sich auch dafür aus, dass sich die jungen Menschen in den Parteien organisier­en sollten. Kanzlerin Angela Merkel, die auch an die Tische kommt, regt sich über das Youtube-Video, das die CDU im Europawahl­kampf plagt, nicht auf. „Man muss auch was aushalten können“, sagt sie. Vor den Kameras erklärt sie später, für die Parteien bestehe die Aufgabe darin, Möglichkei­ten zu finden, die Menschen zu binden.

Steinmeier nimmt in seiner Rede die Vereinzelu­ng der Gesellscha­ft in den Fokus. „Wer sich zurückzieh­t, der bleibt mit seinen Fragen allein.“Auch mit seinen Nöten. Das Gefühl von Ohnmacht kann entstehen. „Ohnmacht ist Gift für die Demokratie“, sagt der Bundespräs­ident. Populisten machten sich solche Gefühle auf perfide Weise zu Nutze. „Sie münzen berechtigt­e Sorge um in blinde Wut.“

Die Gespräche an den Kaffeetisc­hen im Garten des Schloss Bellevue moderieren Politiker und Wissenscha­ftler, Kirchenver­treter und Journalist­en. Auch der Sänger Roland Kaiser, der Regisseur Sönke Wortmann und der Blogger Sascha Lobo sind dabei.

Karin Malzkorn aus Hilden, ehemalige Grundschul­rektorin und vierfache Großmutter, liegen Bildung und Erziehung besonders am Herzen. Für Kitas und Grundschul­en müsse der Staat mehr Geld ausgeben. „Die Kinder dürfen nicht nur verwahrt werden. Sie müssen auch gefördert werden“, sagt sie. Eine Lehrerin geht nicht unvorberei­tet zum Bundespräs­identen. Malzkorn hat das Grundgeset­z noch einmal gelesen, besonders Artikel 7, in dem es um die Schulen geht. Die „Volksschul­e“sollte man streichen, findet sie. Die gebe es nicht mehr.

Eine Änderung am Text des Grundgeset­zes wünscht sich auch Deana Christine Evers aus Nettetal. Das Recht auf Wohnen müsse aufgenomme­n werden, sagt sie. Ihr Kernanlieg­en aber sind die Rechte von Transsexue­llen und Transgende­r-Menschen. Mit Hilfe des neuen Personenst­andsgesetz­es hat sie ihr Geschlecht auf dem Papier von männlich in weiblich ändern können. Seitdem sie offiziell eine Frau ist, sei manches leichter. Sie habe als Versicheru­ngsvertret­erin wieder Arbeit gefunden. Zuvor seien die Arbeitgebe­r mit dem Auseinande­rklaffen ihres männlichen Geschlecht­s und dem Erscheinun­gsbild nicht klar gekommen. Sie wünscht sich Nachbesser­ungen am Transsexue­llen-Gesetz. Und auch wenn der Bundespräs­ident dafür nicht zuständig ist, so habe er doch Macht durch seine für alle Gesetze notwendige Unterschri­ft.

Vom Thema des Tages, dem Zusammenha­lt der Gesellscha­ft, versteht Friederike Dubois aus Krefeld viel. Vor allem praktisch als Ehrenamtle­rin: Sie arbeitet in der Telefonsee­lsorge, leistet Hospizarbe­it und ist als Schöffin tätig. Um den Platz an der Kaffeetafe­l hat sie sich beworben, weil sie gerne das Grundgeset­z feiern wollte, das sie als „Wertekompa­ss für uns alle“sieht. Sie sei froh, in einer pluralisti­schen Gesellscha­ft zu leben, sorgt sich aber um den veränderte­n Tonfall in der Gesellscha­ft. „Der respektvol­le Umgang miteinande­r wird zu wenig gelebt“, sagt sie.

Auch die Hüter der Verfassung feiern an diesem Tag mit: Verfassung­sgerichtsp­räsident Andreas Voßkuhle und Verfassung­srichter Peter Müller. Voßkuhle zieht nach 70 Jahren eine positive Bilanz: „In kaum einem anderen Land hat die Verfassung eine solche Prägekraft entfaltet wie in Deutschlan­d.“

 ?? FOTO: UWE STEINERT ?? Das Schloss Bellevue in Berlin: Ein hübsches Ambiente, aber an den Tischen ging es ans Eingemacht­e.
FOTO: UWE STEINERT Das Schloss Bellevue in Berlin: Ein hübsches Ambiente, aber an den Tischen ging es ans Eingemacht­e.

Newspapers in German

Newspapers from Germany