Unser Literatur-Thermometer
Auch Bücher haben ihre Temperaturen. Sie spielen in Wüsten oder in Eiswelten, sind hitzig oder frostig. Und wir, ihre Leser, bibbern und schwitzen mit ihnen. Eine Betrachtung übers Lesen in Zeiten der Hitze.
Lesen in Zeiten der Hitze geht ungefähr so: Weil alle die Sommerzeit zur Lesezeit deklarieren, steckt man auch ein Buch in die Badetasche und widmet sich – so die Vorstellung – auf irgendeiner der idyllischen Liegewiesen bei leichtem Wind und sanftem Blätterrauschen der Lektüre. Herrlich! Wenn nicht gerade die ballspielenden Kinder ein paar Meter weiter wären. Außerdem blendet das Licht doch ein wenig, so dass eine Hand als Sonnenschutz dienen muss, um überhaupt etwas entziffern zu können. Die aber wird irgendwann müde, also wechselt man den Arm, bis auch dieser bald erlahmt.
Dabei ist man erst auf Seite fünf des ganz und gar wunderbaren Buches, leicht, aber nicht oberflächlich, unterhaltsam, doch keineswegs kitschig. Das versprach der Buchhändler. Doch wirklich nachzuempfinden fällt das im Augenblick recht schwer, denn plötzlich macht sich diese blöde Baumwurzel bemerkbar, die in den unteren Rückenbereich drückt. Hatten wir bei der Wahl des Liegeplatzes wohl irgendwie übersehen. Sich jetzt aber wieder zu verlagern, hieße, alles zusammenzupacken mit der vagen Hoffnung, ein bequemeres Rasenstück zu finden.
Außerdem wird es jetzt im Buch – auf Seite acht immerhin – ein wenig interessanter. So könnte eigentlich jetzt alles sehr, sehr schön sein. Zumal auch die paar Ameisen auf der Decke nicht allzu sehr stören. Selbst an die ungewohnte Körperhaltung beginnt man sich zu gewöhnen. Und dass der linke Arm nun vollständig taub geworden ist und sich bestenfalls zum grobmotorischen Umblättern eignet, sei’s drum. Schließlich scheint es jetzt auch lustig zu werden mit dem Auftritt dieser Dingsda, die auf Seite zwei wohl schon einmal vorkam.
Zwar sollte man zwischendurch die nun leicht brennende Haut eincremen, doch das hieße wiederum, die Finger mit Sonnenöl derart zu kontaminieren, dass es an Buchfrevel grenzte, würde man damit die Seiten berühren.
Diese Wahrheit also bleibt gültig: Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Schicksale, und Leser natürlich auch. Und beides kreuzt sich in der Frage: Lesen wir lieber Eisiges in der Hitze oder Wüstengeschichten bei Frost, um uns im Sommer abzukühlen und im Winter zu erwärmen? Oder solidarisieren wir uns einfach mit den Helden der Bücher? Das ist dann der Brückenschlag zwischen Fiktion und Wirklichkeit, den die Literatur selten nötig hat. Folgen wir doch zu jeder Jahreszeit den Schneespuren von Fräulein Smilla und bibbern uns mit dem 16-jährigen Holden Caulfield durch New York; wir befahren unter bedächtiger Führung die Eismeere mitten im August und schwitzen in der Adventszeit mit Homo Faber in der brütenden Hitze auf einer Plantage in Guatemala. Die Kraft der Literatur erschöpft sich nicht in ihrer netten Begleitung unserer Stimmung, sie hat das Zeug, uns zu fremden Welten zu verführen. Und so zeigt unser Literatur-Thermometer an, in welche Klimazonen uns manche Bücher leiten können – zu jeder Jahreszeit. Die Skala unseres Thermometers zeigt nicht gut oder schlecht an, sondern bloß warm und kalt. Grandios sind alle Titel und jedes Buch ist eine dicke Empfehlung.
Allerdings unterliegt auch das Lesen wohltemperierten Vorgaben. Der ungarische Dichter Sándor Màrai kam zur Erkenntnis, dass die optimale Lesetemperatur bei 18 Grad Celsius liege. „Unter- und oberhalb dieses Wertes hat niemand echten Bedarf.“Das ist leicht gesagt im rheinischen Juli 2019! Noch dazu im Schwimmbad. Welches Buch es nun war, das sich liegend so mies lesen ließ? Keins vom Thermometer. Sondern eins, das nur vom Lesen eben dieses Romans handelt und dessen Titel der Freibadwelt ein Schnippchen schlug: „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“von Italo Calvino. Und das so wunderbar beginnt: „Du schickst dich an, den neuen Roman ,Wenn ein Reisender in einer Winternacht’ von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Lass deine Umwelt im ungewissen verschwimmen.“