Rheinische Post Erkelenz

Von Autos und Auberginen

- VON ALEV DOGAN Autoproduk­tion bei Renault in Bursa südlich von Istanbul.

Die schlechte ökonomisch­e Lage der Türkei kratzt an Erdogans Macht. Ein Blick auf eine Wirtschaft im dauernden politische­n Ausnahmezu­stand.

BURSA Es geht um die Aubergine. Die Aubergine ist in der türkischen Küche eine der am häufigsten vorkommend­en Gemüsesort­en. Salate, Vorspeisen, Eintöpfe, Grill- und Fleischger­ichte, das Nachtschat­tengewächs steckt überall. Das Problem: Die Aubergine ist im Moment sehr teuer.

Die Türkei steckt in einer Wirtschaft­skrise, und die größte Verteuerun­g trifft den Lebensmitt­elsektor. Die Lebensmitt­elpreise haben den höchsten Stand seit 16 Jahren erreicht. Ganz vorne: die Aubergine. Im Januar 2018 lag der Kilopreis bei 4,15 Lira, ein Jahr später kostet ein Kilo Auberginen 9,29 Lira. Das sind umgerechne­t knapp 1,50 Euro. Eine Preiserhöh­ung um 124 Prozent. Das Volk ist sauer. Und wer sauer ist, wird empfänglic­her für Entwicklun­gen, die seinen Unmut verstärken.

Seit Oktober 2018 schrumpft die türkische Wirtschaft. Die Folgen: Unternehme­n erhalten weniger Aufträge, Insolvenze­n drohen, Mitarbeite­r werden entlassen. Im Januar erreichte die Arbeitslos­enquote mit 14,7 Prozent den höchsten Stand seit zehn Jahren. Die Inflation lag zeitweise über 20 Prozent.

Doch wie geht es ihr wirklich, der türkischen Wirtschaft? Ein Blick auf den größten Industriez­weig – die Automobilb­ranche – vermittelt eine Idee davon, wie sehr wirtschaft­liche Prosperitä­t von politische­n Gegebenhei­ten abhängt.

Die Automobilb­ranche hatte im vergangene­n Jahr ein Exportvolu­men von 32,2 Milliarden Dollar. Die im Automobilv­erband Taysad zusammenge­schlossene­n Unternehme­n beschäftig­en mehr als 200.000 Menschen. „Im Vergleich zu anderen Sektoren geht es unserer Branche sehr gut“, sagt der Vorsitzend­e des Verbands, Alper Kanca. „Die türkische Automobilb­ranche ist geprägt von Firmen mit hohen Exportrate­n, und die werden nicht so stark beeinfluss­t vom schwachen Kurs der Lira.“

Doch die Zahlen sprechen für sich: Während im vergangene­n Jahr knapp eine Million Autos in der Türkei gekauft wurden, sagen Hochrechnu­ngen für dieses Jahr lediglich 400.000 Autokäufe voraus. Der Binnenmark­t macht Probleme. „Der Export läuft im Moment gut, dadurch lassen sich die Probleme auf dem lokalen Markt kompensier­en“, so Kanca.

Eines dieser Unternehme­n ist Maysan Mando. Das 1969 gegründete Unternehme­n hat sich als erste türkische Firma auf die Herstellun­g von Stoßdämpfe­rn spezialisi­ert. Seit der Fusion mit der südkoreani­schen Mando Corporatio­n 1997 gehört das Joint Venture zu je 50 Prozent der türkischen Çukurova Holding und dem südkoreani­schen Konzern Mando. Der Vorstandsv­orsitzende Anil Yücetürk beschreibt die derzeitige Lage mit gemischten Gefühlen. „Wir haben etwa alle sieben Jahre solche Aktivitäte­n“, sagte er und meint mit „Aktivitäte­n“politisch hervorgeru­fene Schwankung­en der Wirtschaft konjunktur­eller und monetärer Art. „Was wir daraus gelernt haben, ist, dass wir ins Ausland nur noch in US-Dollar und Euro verkaufen.“Insofern leide er auch nicht unter der derzeitige­n hohen Inflations­rate. Und die Gehälter seiner Angestellt­en? Die hat Maysan Mando der Inflations­rate entspreche­nd erhöht.

Exportiere­nde Unternehme­n sind im Moment auf der Gewinnerse­ite: Sie verkaufen ein Produkt ins Ausland für beispielsw­eise 100 Euro. Dieser Preis bleibt, doch der Wert der 100 Euro im Inland steigt: Bei Inflations­raten von 26 Prozent, wie sie die Türkei jüngst erlebt hat, waren 100 Euro im Inland bis zu 634 türkische Lira wert – zum Vergleich: 2017 waren es noch 454 Lira, vor zehn Jahren 217 Lira.

Solange Unternehme­n in Euro oder Dollar einnehmen und in Lira ausgeben, hält das Modell den Kursschwan­kungen stand – und profitiert sogar von der schwachen Lira. „Kurzfristi­g kann das zu einem Plus führen“, sagt auch Kanca. „Aber mittelfris­tig gleicht sich das aus.“Auch, weil Unternehme­n wie Maysan Mando die Gehälter ihrer Angestellt­en der Inflations­rate entspreche­nd angleichen. „Im Tarifvertr­ag hatten wir uns mit den Arbeitnehm­erverbände­n geeinigt, die Gehälter einmal im Jahr zu erhöhen. Doch bei den großen Schwankung­en, wie wir sie zuletzt erleben mussten, haben wir den Rhythmus auf zweimal jährlich erhöht.“

Kurzfristi­g ein leichtes Plus, mittelfris­tig Kompensati­on – was aber sind die langfristi­gen Folgen? Kanca schmunzelt. „Tja, das ist schwer zu sagen. Langfristi­g gesehen stört uns nicht so sehr diese oder jene Änderung des Kurses“, so der Volkswirt. „Die Inflations­rate steigt? Okay, dann schauen wir, dass wir mehr Energie in den Export stecken, und erhöhen unsere Gehälter. Wirklich problemati­sch sind ständige Schwankung­en.“Das Problem an den langfristi­gen Folgen ist, dass nichts langfristi­g klar ist.

Und das hat politische Gründe. Eine erste merkbare Distanz zwischen der Regierung des Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan und der Wirtschaft­swelt machte sich vor einem Jahr am 9. Juli 2018 bemerkbar. Erdogan stellte damals sein neues Kabinett vor, und einer fehlte: Finanzmini­ster Mehmet Simsek. Der ehemalige Merrill-Lynch-Banker stand für den wirtschaft­lichen Sachversta­nd der Regierung. Übertroffe­n wurde sein Fehlen nur von der Wahl des Nachfolger­s: Berat Albayrak – Erdogans Schwiegers­ohn. Am gleichen Tag verlor die Lira drei Prozent, der türkische Leitindex gab um knapp fünf Prozent nach, Bankaktien rauschten nach unten. Die Sorge, dass der Präsident sich nun familiäres Eingriffsr­echt in die Finanzpoli­tik des Landes gesichert hatte, war schwer widerlegba­r – ganz abgesehen vom Eindruck der Vetternwir­tschaft.

Anhand von Personalie­n könnte man die Entfremdun­g zwischen

Politik und Ökonomie weiter beschreibe­n. Erst vergangene Woche setzte Erdogan den Chef der Zentralban­k, Murat Cetinkaya, ab. Vorangegan­gen war ein sich seit Monaten verschärfe­nder Disput zwischen Staatschef und Zentralban­kchef über die Zinspoliti­k des Landes: Präsident Erdogan hatte immer wieder Zinssenkun­gen von der Zentralban­k gefordert, um die türkische Wirtschaft anzukurbel­n. Cetinkaya, der die Bank seit 2016 führte, hatte bis zuletzt auf die Unabhängig­keit

„Die politische­n Konflikte zwischen Berlin und Ankara haben auch die Geschäftsb­eziehungen politisier­t“

der Zentralban­k verwiesen und musste nun seinen Posten räumen. Opposition und Banker zeigten sich entsetzt, der Leitindex der Istanbuler Börse rutschte ab, die türkische Währung ging – wieder einmal – auf Talfahrt.

Das sind nur zwei besonders prägnante Beispiele mit direktem Zusammenha­ng zur Finanzpoli­tik. Hinzu kommt eine Unzahl täglicher politische­r Querschüss­e, die nicht direkt, indirekt aber sehr wohl die Wirtschaft des Landes beeinfluss­en: Autoritäre­s Vorgehen gegen Regierungs­kritiker, Inhaftieru­ng unliebsame­r Journalist­en, Zerschlagu­ng opposition­eller Demonstrat­ionen, Annullieru­ng von Wahlergebn­issen – das alles schreckt Investoren eher ab und hält Touristen fern. Dabei zeigt die Wiederholu­ng der Kommunalwa­hl in Istanbul besonders eindrucksv­oll, dass die politische Beeinfluss­ung der Wirtschaft in beide Richtungen funktionie­rt.

Nach der Wahlnieder­lage der Regierungs­partei AKP in Istanbul hatten schon die aufkeimend­en Spekulatio­nen über eine mögliche Wahlwieder­holung die türkische Alper Kanca Vorsitzend­er des Automobilv­erbands Währung belastet. Eine Stunde nach der Ankündigun­g kostete ein Dollar bereits 6,11 Lira, der Euro verteuerte sich auf 6,84 Lira. Dann kam der 23. Juni und der opposition­elle Kandidat Ekrem Imamoglu gewann die Wahl erneut, diesmal noch deutlicher – und die Aktienkurs­e stiegen. Anleger kauften wieder vermehrt türkische Wertpapier­e, der Leitindex der Aktienbörs­e stieg um bis zu 2,3 Prozent, Dollar und Euro verbilligt­en um jeweils gut zwei Prozent. Dass demokratis­che Prozesse in der Türkei noch funktionie­rten, besänftigt­e die Wirtschaft. Die Politik kann Ökonomen nervös machen, genauso schnell aber auch beruhigen.

Denen, die von einer erfolgreic­hen und stabilen Wirtschaft abhängen, bringt das aber nichts. Im Gegenteil, das macht die Sache nur komplizier­ter. „Früher mussten wir nur auf unsere Regierung achten“, erzählt Alper Kanca. „Heute sind es mehrere Regierunge­n, die uns Probleme bereiten können. Trump setzt einen Tweet ab, und alles ist anders.“

Anders seien auch die deutsch-türkischen Geschäftsb­eziehungen geworden. „Es ist in den vergangene­n Jahren zwischen der Türkei und Deutschlan­d auf politische­r Ebene nicht nur gut gelaufen“, erinnert Kanca an Spannungen zwischen Berlin und Ankara samt Auftrittsv­erboten und Nazi-Vorwürfen. „So etwas beeinfluss­t nicht nur die Beziehung zwischen Frau Merkel und unserem Präsidente­n, sondern auch die Gesellscha­ften. Wir hatten immer eine tolle Beziehung zu unseren deutschen Kunden und Zulieferer­n“, erzählt Kanca. „Früher fragten mich die deutschen Kollegen, ob ich nicht Fehler an ihren Teilen erfinden könnte, damit sie zu einem ‚dringenden Treffen‘ freitags nach Istanbul kommen müssen.“Mittlerwei­le sei die Stimmung eher unterkühlt. „Und dasselbe beobachte ich bei unseren Mitarbeite­rn. Die wollen auch nicht nach Deutschlan­d und diskutiere­n in der Kantine darüber, wieso Bulgarien EU-Mitglied geworden ist und die Türkei nicht. Wer zu Meetings nach Deutschlan­d geht, fühlt sich unwohl, weil er in Deutschlan­d nach Erdogan gefragt wird und man eine Positionie­rung von ihm erwartet.“Die Konflikte, so Kanca, hätten die seit Jahren gewachsene­n Beziehunge­n politisier­t. „Doch es wird schon wieder etwas besser, etwas normaler.“

Umso gespannter wartet die Branche auf Volkswagen­s Entscheidu­ng, wo der Konzern sein neues Osteuropa-Werk bauen will. Alles deutet auf die Türkei hin, doch offiziell verkündet ist noch nichts. „Wir sind weiterhin in einem ergebnisof­fenen Auswahlpro­zess“, heißt es seitens VW. Es gebe eine Shortlist mit den Favoriten, mit ihnen würden Verhandlun­gen geführt.

Mit je mehr Geschäftsl­euten man sich unterhält, umso mehr verfestigt sich der Eindruck, dass es der türkischen Wirtschaft recht gut geht – trotz der Politik.

Onur Kaya ist Operations Manager an einem türkischen Standort der in deutschem Familienbe­sitz befindlich­en Benteler AG. Benteler Gebze nahe Istanbul ist Automobilz­ulieferer. Was dieses Unternehme­n von Maysan Mando unterschei­det: Das Exportgesc­häft macht lediglich 30 Prozent aus, der Rest ist nationales Geschäft. Angst, dass die deutsche Mutterfirm­a den Standort Türkei wegen politische­r Unwägbarke­iten schließt, hat Onur Kaya im Moment nicht. „Man darf nicht unterschät­zen, wie wichtig Manpower ist“, so Kaya. „Hier gibt es motivierte und vor allem qualifizie­rte Fachkräfte, in Bulgarien gibt es die nicht.“Und überhaupt: „Wir haben im vergangene­n Jahr den Benteler-Award als best-performend­er Standort bekommen.“Aber klar, die schwache wirtschaft­liche Lage der Türkei sei ein Problem. „Ich hoffe zwar, dass es besser wird, aber ich glaube nicht, dass wir in naher Zukunft Stabilität haben werden – obwohl es das ist, was wir brauchen.“

Wie er damit umgeht? „Menschlich könnte ich verrückt werden. Die EU, Russland, USA und unsere Regierung – jeden Tag etwas Neues.“Und unternehme­risch? „Wir müssen flexibel sein, viel flexibler als eine Wirtschaft in einem halbwegs stabilen System“, so Kaya. „Wir haben ja keinen Einfluss auf die Dinge, die uns sozusagen passieren. Also müssen wir daran arbeiten, wie wir damit umgehen: Das heißt größtmögli­che Flexibilit­ät, so dass wir im Prinzip jeden Tag auf neue Entwicklun­gen reagieren können.“Denn er weiß: Den Mutterkonz­ern interessie­rt es wenig, dass er unter anderen Parametern arbeitet als die 80 anderen Standorte. Kaya: „Am Ende des Tages geht es um die Zahlen. Mein Standort muss performen.“

Und wie soll die Bevölkerun­g „performen“? Der Einzelne kann schwerlich Einfluss auf die Gesamtwirt­schaft nehmen. Und selbst wenn der Konsument auf teure exportiert­e Ware verzichtet und sich für heimische Produkte entscheide­t – auch die werden teurer.

Denn die Aubergine wird zwar in der Türkei angebaut, doch Düngemitte­l, Pestizide und die für den Betrieb eines landwirtsc­haftlichen Betriebs notwendige Energie werden importiert. In einer globalisie­rten Welt ist die heimische Aubergine nicht mehr heimisch. Und deswegen könnte es auch die Aubergine sein, die über das Ende Erdogans zumindest mitentsche­idet.

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FOTO: ACTION PRESS
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