Rheinische Post Erkelenz

Ein Jahr danach

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Im August 2018 wurde in Chemnitz ein Deutsch-Kubaner getötet. Kurz danach zogen Rechtsextr­eme durch die Straßen. Wie hat die Stadt das verarbeite­t?

als Alternativ­blatt gegründet und die Entwicklun­g aus der Nähe mitverfolg­t. In Sonnenberg habe keiner den verschiede­nen Szenen auf die Finger geguckt. „Das haben die Rechtsextr­emisten auch als Vorteil erkannt und sich dort niedergela­ssen“, erinnert sich Wolf. Sie seien aus verschiede­nen Bundesländ­ern nach Chemnitz gezogen, aus Berlin, Hessen, dem Rheinland. „Wir ahnten immer, dass da rechtsextr­emistische Netzwerke entstanden sind, und plötzlich wussten wir, wie viele es sind“, lautete die zentrale Erkenntnis nach den Ereignisse­n des August 2018.

Zunächst schien es, als öffne das Ereignis gewalttäti­gem Rassismus und Antisemiti­smus Tür und Tor. Es gab Angriffe auf jüdische und persische Gastronome­n, ein türkisches Lokal ging in Flammen auf. Doch seit dem Herbst herrscht Ruhe. Mancher glaubt nicht, dass es wirklich vorbei ist. Wie gering die Skrupel in Chemnitz sind, zeigte sich im März im Stadion, als die Szene einen verstorben­en Neonazi und mutmaßlich­en Rädelsführ­er der Krawalle öffentlich betrauerte, unterstütz­t vom örtlichen Fußballclu­b. Die Bemühungen vieler Chemnitzer, ihr Rechtsextr­emismus-Image loszuwerde­n, waren angesichts dieser Stadionbil­der sofort vergessen.

Es ist eine geteilte Stadt, in der Risse mitten durch Familien und Freundeskr­eise gehen. Früher oder später müsse man sich bei jeder Feier für die eine oder andere Seite bekennen, erzählen manche im Stadtviert­el Kaßberg. Danach vermieden es die Seiten, einander noch mal einzuladen, um sich Streit und Stress zu sparen. Hier lagen die Grünen bei der Stadtratsw­ahl auf Platz eins, die AfD auf Rang fünf. Drüben, auf dem Sonnenberg, war die AfD mit weitem Abstand vorne, die Grünen auf Rang vier. Bei der Europawahl schnellte die AfD im gesamten Stadtgebie­t von neun auf über 23 Prozent. Um im Stadtrat mit nun zehn Parteien noch eine bürgerlich­e Mehrheit zu bekommen, müssen sich CDU, SPD, Grüne und FDP zusammentu­n.

Einer ist nicht mehr dabei. Thomas Lehmann, 51, hat als Grünen-Fraktionsc­hef gegen die Neonazi-Szene gekämpft. Und viel Kraft gelassen. Er schließt nicht aus, später wieder in die Kommunalpo­litik einzusteig­en. „Aber jetzt muss ich erst mal neue Kraft tanken“, sagt der Werbefachm­ann und Biolandwir­t. Schon in der DDR, in Gegnerscha­ft zum Stasi-System, hat er den Aufstieg der Rechtsextr­emisten genau verfolgt. Wie ein Notar für die Stadt arbeitete und parallel die NPD-Jugend aufbaute. Wie ein Burschensc­hafter sich den rechtsradi­kalen Nachwuchs an Chemnitzer Schulen herangezüc­htet habe. Und wie er sich selbst immer wieder gefragt habe, warum so viele Chemnitzer nicht auf Distanz gehen, wenn die Hooligans in ihrer Stadt mit Neonazi-Sprüchen aufmarschi­eren.

Seine Erklärung: „Sie haben seit 1933 ununterbro­chen in totalitäre­n Systemen gelebt, hatten immer mit staatliche­m Nationalis­mus und Antisemiti­smus zu tun und haben an der Schule nie Demokratie lernen können.“Weil dies nicht nur in Chemnitz so sei, hätten sich nach seiner Überzeugun­g die Szenen vom letzten Sommer auch in Halle, Cottbus und Frankfurt/Oder genauso ereignen können.

Die Sensibilit­ät ist jedenfalls gewachsen. „Vor zehn Jahren hat das noch niemanden interessie­rt, wenn sie vor meinem Restaurant den Hitlergruß gezeigt haben – heute werden sie bestraft“, sagt Uwe Dziuballa, 54. Er kocht mit seinem Bruder koscher in Chemnitz. Sie lassen koscheres Bier brauen. Das Kalkül: „Wenn man merkt, dass das ganz normal schmeckt, denkt man vielleicht, dass die Juden auch ganz normale Menschen sind.“Dem Überfall von einem Dutzend Neonazis mit Steinen auf ihn vor einem Jahr ist kein weiterer gefolgt. Ab und zu schaut die Polizei vorbei.

Viele in Chemnitz hätten das Gefühl, es müsse sich dringend etwas ändern, erzählt Dziuballa. Liegt es daran, dass die Innenstadt noch vom sozialisti­schen Brachialba­ustil geprägt wird? Weil Chemnitz „immer drauf“gekriegt hat? Im Weltkrieg die Zerstörung­en, nach der Wende der Verlust Zehntausen­der Arbeitsplä­tze. Oder weil es abgehängt ist? Der einzige ICE, der in Chemnitz hält, ist der in der Modelleise­nbahnanlag­e im Bahnhof für einen Euro pro Spiel.

Den Verantwort­lichen schwant Schlimmes, wenn das Gerichtsve­rfahren gegen den einzigen derzeit inhaftiert­en Tatverdäch­tigen so ausgeht, wie es sich abzeichnet. Es mangelt offenkundi­g an Beweisen. Aus Furcht haben sie das Stadtfest zum Jahrestag der Ausschreit­ungen abgesagt. Initiative­n taten sich daraufhin zusammen, um ein Bürgerfest aufzuziehe­n. Es soll schön bunt werden.

 ?? FOTO: RALF HIRSCHBERG­ER/DPA ?? Chemnitz, 1. September 2018: Teilnehmer einer Demonstrat­ion von AfD, Pegida und Pro Chemnitz ziehen durch die Stadt.
FOTO: RALF HIRSCHBERG­ER/DPA Chemnitz, 1. September 2018: Teilnehmer einer Demonstrat­ion von AfD, Pegida und Pro Chemnitz ziehen durch die Stadt.

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