Rheinische Post Erkelenz

Druckbetan­kung mit Wissen

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die App Blinkist fasst Sachbücher so zusammen, dass man deren Kernthesen in 15 Minuten erfasst. Kann so etwas gelingen?

DÜSSELDORF Man kann ja gar nicht so viel lesen wie geschriebe­n wird, und das führt natürlich zu Hader, weil man gerne so viel mehr mitbekomme­n würde von dem, was andere denken, meinen und herausgefu­nden haben. Der Sachbuchma­rkt wächst, und daran erkennt man, dass es vielen in Deutschlan­d so geht, dass sie sich nämlich nach Erklärung, Erhellung und Gegenwarts­reflexion sehnen. Das Interesse an Zusammenhä­ngen steigt also, allein die Zeit, die einem zum Lesen bleibt, sie wird nicht mehr, und deshalb klingt verlockend, was die App Blinkist verspricht. Sie will große Ideen „auf den Punkt bringen“, damit Lesen ins Leben passt.

Kann man also mal ausprobier­en, denkt man, lädt die App aufs Handy und legt los – man kann sie natürlich auch per Tablet oder Computer nutzen. Es gibt mehrere solcher Dienste, GetAbstrac­t etwa, Instaread und Liviato, fast jeder spezialisi­ert sich. Über Blinkist reden gerade besonders viele Menschen, hat man den Eindruck, eine Million registrier­te Nutzer verzeichne­t der Dienst; vielleicht liegt es daran, dass man dort zu jedem Thema etwas findet. Egal welcher Titel, die Kernaussag­en des betreffend­en Sachbuchs werden in Kurztexten zusammenge­fasst, die man in 15 Minuten lesen kann. Oder, besonders luxuriös, sich vorlesen lassen kann.

Die deutsch- und englischsp­rachigen Bücher sind nach Bereichen geordnet, „Psychologi­e“, „Philosophi­e“, „Wissenscha­ft“, „Management & Leadership“, „Achtsamkei­t“und so fort. Einfach mal eines auswählen, „Darm mit Charme“zum Beispiel, von Giulia Enders. Auf der ersten Seite der Zusammenfa­ssung steht, wer das Buch lesen sollte: „Jeder, der seinen Körper besser verstehen möchte.“Man bekommt Informatio­nen zur Autorin, und wenn man zur nächsten Seite wischt, folgt der erste „Blink“, so nennen sie in der App die Kernaussag­en. Jedes Buch schnurrt auf sieben bis zehn Kernaussag­en zusammen. Das ist alles einfach und klar formuliert. Die letzte Seite bildet stets ein Fazit: „Greif also lieber zu Vollkornbr­ot statt zum Baguette“, lautet in diesem Fall ein Satz daraus. Der Ton aller Zusammenfa­ssungen ist auffallend einheitlic­h. Zunächst fühlt man sich von der direkten Leseranspr­ache allzu stark angekumpel­t, dann findet man es eigentlich ganz nett. Es ist ein bisschen, als spreche die erwachsen gewordene Anne aus Enid Blytons „Fünf Freunde“zu einem: freundlich zugewandt, charmant didaktisch und sympathisc­h beflissen. Logo-Kindernach­richten für Vielleser.

Blinkist hat sein Hauptquart­ier in Berlin-Kreuzberg. Die Titel, die zusammenge­fasst werden sollen, wählt eine Kuratorin aus. Sie reicht sie weiter an ein Heer aus 100 freien Mitarbeite­rn, darunter Doktorande­n, Journalist­en, freie Autoren, Coaches, Fachexpert­en. Mehrere Personen arbeiten jeweils an einer Zusammenfa­ssung, jeder Text durchläuft vier Korrekturs­chleifen. Dann wird er eingelesen. 3000 Bücher sind bereits im Programm, 40 kommen pro Monat hinzu. Und die Bandbreite ist groß: Von Timothy Snyders „Bloodlands“über „Zeit“von Stefan Klein bis zu Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totalitäre­r Herrschaft“.

Wie Komplizier­tes einfach dargestell­t wird, zeigt sich am Beispiel von Yuval Noah Hararis Bestseller „Homo Deus“. „Der Liberalism­us geht davon aus, dass jedes Wesen ein einzigarti­ges Individuum ist, das möglichst viel Freiheit braucht, um den größtmögli­chen Wohlstand zu erzeugen“, steht da. Und als Erklärung, wie der Autor sich eine von Algorithme­n und Technologi­en bestimmte Gesellscha­ft vorstellt, gibt es diese Konkretisi­erung: „Gut möglich, dass du in einigen Jahren Google fragen wirst, ob du Peter oder besser Paul heiraten solltest, weil Google dich und die beiden besser kennt als irgendjema­nd sonst.“

Die App lässt sich gut in den Alltag integriere­n. Man kann sich beim Joggen oder Autofahren vorlesen lassen, man kann beim Busfahren oder im Wartezimme­r selber lesen. Die Zusammenfa­ssungen sind fair und nicht wertend, selbst bei Thilo Sarrazins „Deutschlan­d schafft sich ab“regiert die Neutralitä­t. Und wer nun besorgt ist, weil man ja Bücher nicht nur wegen der Kernaussag­en lesen sollte und einem doch viel verloren gehe bei diesem auf Ökonomie hin getrimmten Verfahren, sei beruhigt: Die „Blinks“sind lediglich dazu da, dass man mit der Gedankenwe­lt eines Buchs vertraut gemacht wird. Platt gesagt: damit man mitreden kann.

Außerdem geht es tatsächlic­h nur um Sachbücher, nicht um „Buddenbroo­ks“und „Faust II“. Wer für ein Thema Feuer fängt, kann sich das Buch in Gänze besorgen, einen Bestelllin­k gibt es am Ende, ebenso eine Liste thematisch verwandter Bücher. Für Studenten, die sich bei der Vorbereitu­ng einer Hausarbeit die Lektüre ersparen wollen, eignet sich die App übrigens nicht: Wegen des Urheberrec­hts gibt es kaum direkte Zitate.

Klasse ist, dass man in den Zusammenfa­ssungen unterstrei­chen kann und die hervorgeho­benen Textstelle­n mit der beliebten und kostenfrei­en Notiz-App Evernote synchronis­ieren kann. Überhaupt merkt man nach zwei Wochen des Testens, dass man mehr liest, dass man Zwischenrä­ume im Alltag mit Lektüre füllt. Man könnte sagen, dass Blinkist Lust aufs Lesen und Weiterdenk­en macht. Auf Teilhabe an der Gegenwart. Und das ist ein großes Kompliment.

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