Druckbetankung mit Wissen
Die App Blinkist fasst Sachbücher so zusammen, dass man deren Kernthesen in 15 Minuten erfasst. Kann so etwas gelingen?
DÜSSELDORF Man kann ja gar nicht so viel lesen wie geschrieben wird, und das führt natürlich zu Hader, weil man gerne so viel mehr mitbekommen würde von dem, was andere denken, meinen und herausgefunden haben. Der Sachbuchmarkt wächst, und daran erkennt man, dass es vielen in Deutschland so geht, dass sie sich nämlich nach Erklärung, Erhellung und Gegenwartsreflexion sehnen. Das Interesse an Zusammenhängen steigt also, allein die Zeit, die einem zum Lesen bleibt, sie wird nicht mehr, und deshalb klingt verlockend, was die App Blinkist verspricht. Sie will große Ideen „auf den Punkt bringen“, damit Lesen ins Leben passt.
Kann man also mal ausprobieren, denkt man, lädt die App aufs Handy und legt los – man kann sie natürlich auch per Tablet oder Computer nutzen. Es gibt mehrere solcher Dienste, GetAbstract etwa, Instaread und Liviato, fast jeder spezialisiert sich. Über Blinkist reden gerade besonders viele Menschen, hat man den Eindruck, eine Million registrierte Nutzer verzeichnet der Dienst; vielleicht liegt es daran, dass man dort zu jedem Thema etwas findet. Egal welcher Titel, die Kernaussagen des betreffenden Sachbuchs werden in Kurztexten zusammengefasst, die man in 15 Minuten lesen kann. Oder, besonders luxuriös, sich vorlesen lassen kann.
Die deutsch- und englischsprachigen Bücher sind nach Bereichen geordnet, „Psychologie“, „Philosophie“, „Wissenschaft“, „Management & Leadership“, „Achtsamkeit“und so fort. Einfach mal eines auswählen, „Darm mit Charme“zum Beispiel, von Giulia Enders. Auf der ersten Seite der Zusammenfassung steht, wer das Buch lesen sollte: „Jeder, der seinen Körper besser verstehen möchte.“Man bekommt Informationen zur Autorin, und wenn man zur nächsten Seite wischt, folgt der erste „Blink“, so nennen sie in der App die Kernaussagen. Jedes Buch schnurrt auf sieben bis zehn Kernaussagen zusammen. Das ist alles einfach und klar formuliert. Die letzte Seite bildet stets ein Fazit: „Greif also lieber zu Vollkornbrot statt zum Baguette“, lautet in diesem Fall ein Satz daraus. Der Ton aller Zusammenfassungen ist auffallend einheitlich. Zunächst fühlt man sich von der direkten Leseransprache allzu stark angekumpelt, dann findet man es eigentlich ganz nett. Es ist ein bisschen, als spreche die erwachsen gewordene Anne aus Enid Blytons „Fünf Freunde“zu einem: freundlich zugewandt, charmant didaktisch und sympathisch beflissen. Logo-Kindernachrichten für Vielleser.
Blinkist hat sein Hauptquartier in Berlin-Kreuzberg. Die Titel, die zusammengefasst werden sollen, wählt eine Kuratorin aus. Sie reicht sie weiter an ein Heer aus 100 freien Mitarbeitern, darunter Doktoranden, Journalisten, freie Autoren, Coaches, Fachexperten. Mehrere Personen arbeiten jeweils an einer Zusammenfassung, jeder Text durchläuft vier Korrekturschleifen. Dann wird er eingelesen. 3000 Bücher sind bereits im Programm, 40 kommen pro Monat hinzu. Und die Bandbreite ist groß: Von Timothy Snyders „Bloodlands“über „Zeit“von Stefan Klein bis zu Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.
Wie Kompliziertes einfach dargestellt wird, zeigt sich am Beispiel von Yuval Noah Hararis Bestseller „Homo Deus“. „Der Liberalismus geht davon aus, dass jedes Wesen ein einzigartiges Individuum ist, das möglichst viel Freiheit braucht, um den größtmöglichen Wohlstand zu erzeugen“, steht da. Und als Erklärung, wie der Autor sich eine von Algorithmen und Technologien bestimmte Gesellschaft vorstellt, gibt es diese Konkretisierung: „Gut möglich, dass du in einigen Jahren Google fragen wirst, ob du Peter oder besser Paul heiraten solltest, weil Google dich und die beiden besser kennt als irgendjemand sonst.“
Die App lässt sich gut in den Alltag integrieren. Man kann sich beim Joggen oder Autofahren vorlesen lassen, man kann beim Busfahren oder im Wartezimmer selber lesen. Die Zusammenfassungen sind fair und nicht wertend, selbst bei Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“regiert die Neutralität. Und wer nun besorgt ist, weil man ja Bücher nicht nur wegen der Kernaussagen lesen sollte und einem doch viel verloren gehe bei diesem auf Ökonomie hin getrimmten Verfahren, sei beruhigt: Die „Blinks“sind lediglich dazu da, dass man mit der Gedankenwelt eines Buchs vertraut gemacht wird. Platt gesagt: damit man mitreden kann.
Außerdem geht es tatsächlich nur um Sachbücher, nicht um „Buddenbrooks“und „Faust II“. Wer für ein Thema Feuer fängt, kann sich das Buch in Gänze besorgen, einen Bestelllink gibt es am Ende, ebenso eine Liste thematisch verwandter Bücher. Für Studenten, die sich bei der Vorbereitung einer Hausarbeit die Lektüre ersparen wollen, eignet sich die App übrigens nicht: Wegen des Urheberrechts gibt es kaum direkte Zitate.
Klasse ist, dass man in den Zusammenfassungen unterstreichen kann und die hervorgehobenen Textstellen mit der beliebten und kostenfreien Notiz-App Evernote synchronisieren kann. Überhaupt merkt man nach zwei Wochen des Testens, dass man mehr liest, dass man Zwischenräume im Alltag mit Lektüre füllt. Man könnte sagen, dass Blinkist Lust aufs Lesen und Weiterdenken macht. Auf Teilhabe an der Gegenwart. Und das ist ein großes Kompliment.