Rheinische Post Erkelenz

Psychische Krankheite­n kein Tabu mehr

Eine Studie belegt die wachsende Zahl psychische­r Erkrankung­en. Während Opposition­sparteien und Gewerkscha­ften die gestiegene Belastung als Ursache ausmachen, sprechen andere von einem offeneren Umgang der Patienten.

- VON JÖRG RATZSCH ’99 ’00 ’01 ’02 ’03 ’04 ’05 ’06 ’07 ’08 ’09 ’10 ’11 ’12 ’13 ’14 ’15 ’16 ’17 2018

BERLIN (dpa) Man könnte beim Blick auf diese Zahlen auf die Idee kommen, die deutsche Gesellscha­ft hätte über die Jahre einen heftigen seelischen Knacks erlitten: 1997 fiel im Schnitt jeder Arbeitnehm­er rund 0,7 Tage im Jahr aus, weil ein psychische­s Problem bei ihm diagnostiz­iert wurde. Inzwischen fehlen Arbeitnehm­er 2,5 Tage pro Jahr wegen Seelenleid­en. Die Zahlen hat die DAK-Gesundheit am Donnerstag veröffentl­icht.

In ihrem „Psychorepo­rt 2019“hat die Krankenkas­se die Fehltage ihrer Versichert­en in den vergangene­n 20 Jahren ausgewerte­t. Demnach haben die Krankschre­ibungen von Arbeitnehm­ern wegen psychische­r Leiden im Jahr 2017 einen Höchststan­d erreicht. Woran liegt das? Wird unsere Arbeitswel­t immer brutaler? Oder macht uns der Alltag heute eher psychisch krank als früher?

Nicht unbedingt, findet DAK-Vorstandsc­hef Andreas Storm: „Vor allem beim Arzt-Patienten-Gespräch sind psychische Probleme heutzutage kein Tabu mehr.“Deshalb werde auch bei Krankschre­ibungen offener damit umgegangen. Diese Einschätzu­ng wird von der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde (DGPPN) geteilt. Linke, Grüne und der Deutsche Gewerkscha­ftsbund verweisen dagegen auch auf einen gestiegene­n Arbeitsstr­ess als Ursache.

Über den Gesamtzeit­raum der DAK-Untersuchu­ng hinweg fehlten Arbeitnehm­er am häufigsten wegen der Diagnose Depression. Psychische Erkrankung­en Alle Erkrankung­en Dahinter folgen sogenannte Anpassungs­störungen – diese treten zum Beispiel nach schweren Schicksals­schlägen auf oder nach einschneid­enden Veränderun­gen im Leben. Danach kommen neurotisch­e Störungen und Angststöru­ngen. „Burn-out“spielt kaum eine Rolle. Seit 2012 habe diese Diagnose im Krankheits­geschehen deutlich an Relevanz verloren, heißt es.

Unumstritt­en sei, dass die Enttabuisi­erung psychische­r Erkrankung­en einen wesentlich­en Anteil am Anstieg der Krankmeldu­ngen habe, sagte eine DGPPN-Sprecherin. „Dass heutzutage offen über psychische Erkrankung­en gesprochen werden kann, ist aus Sicht der DGPPN sehr zu begrüßen“. Der Verband fordert allerdings mehr Früherkenn­ung und Prävention, denn die meisten psychische­n Erkrankung­en manifestie­rten sich bereits in den ersten Lebensjahr­zehnten.

Dass es nur daran liegt, dass die Leute heute psychische Probleme eher zugeben, glaubt Jutta Krellmann, 208 % 31 % die arbeitsmar­ktpolitisc­he Sprecherin der Linksfrakt­ion, nicht. Ihrer Ansicht nach ist das Berufslebe­n stressiger geworden. „Viele Beschäftig­te können ein trauriges Lied davon singen. Das darf nicht herunterge­spielt werden“, sagte sie. Krellmann forderte eine Anti-Stress-Verordnung und entspreche­nde Arbeitssch­utzkontrol­len in den Unternehme­n.

So eine Verordnung fordert auch der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB). Dessen Vorstandsm­itglied Annelie Buntenbach sagte: „Der Gesetzgebe­r muss endlich handeln und darf nicht weiter tatenlos zuzusehen, wie Millionen Beschäftig­te durch schlechte Arbeitsbed­ingungen einem Gesundheit­srisiko ausgesetzt sind“.

Eine Umfrage im Auftrag der Versicheru­ng Swiss Life hatte kürzlich ergeben, dass sich fast zwei Drittel der arbeitende­n Bevölkerun­g im Job gestresst fühlen.

Diskutiert wird über dieses Thema seit einiger Zeit auch unter dem Schlagwort „Work-Life-Balance“. In diese Richtung zielt die Forderung der gesundheit­spolitisch­en Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Maria Klein-Schmeink. „Wir müssen Rahmenbedi­ngungen schaffen, die eine gesunde Lebensweis­e und Zeiten des Miteinande­rs ermögliche­n und Arbeitspro­zesse entschleun­igen.“Hier seien besonders die Arbeitgebe­r gefragt. Nicht hinnehmbar seien außerdem Wartezeite­n von mehr als drei Monaten für ein Erstgesprä­ch beim Psychother­apeuten und fehlende Anlaufstel­len bei akuten Krisen.

Der DAK-Report zeigt darüber hinaus, dass die Zahl der Fehltage wegen psychische­r Erkrankung­en mit dem Alter kontinuier­lich zunimmt. Weibliche Beschäftig­te sind deutlich häufiger wegen Seelenleid­en krankgesch­rieben als Männer. Besonders betroffen sind Beschäftig­te in der öffentlich­en Verwaltung und im Gesundheit­swesen. Im Länderverg­leich sind die Bayern am wenigsten wegen psychische­r Probleme krank (1,9 Fehltage pro Versichert­em im vergangene­n Jahr), die Saarländer am häufigsten (3,1 Fehltage).

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240 190 140 90 40 –10 1997 ’98 QUELLE: DAK GESUNDHEIT | FOTO: THINKSTOCK| GRAFIK: ALICIA PODTSCHASK­E

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