Abschied vom „Wohnzimmer“
Veronika Märtin schließt aus familiären Gründen ihr Modegeschäft in der Fußgängerzone. Nach fast 50 Jahren will sie ihre Aufmerksamkeit ungeteilt der Familie schenken. Bald geht es nach Süddeutschland.
ERKELENZ „So schnell wie möglich“, antwortet Veronika Märtin auf die Frage, wann sie ihr Fachgeschäft für Damenoberbekleidung an der Aachener Straße in Erkelenz schließen möchte. Die Antwort kommt entschlossen, aber auch mit ein wenig Wehmut, immerhin beschäftigt sich die gelernte Einzelhandelskauffrau seit fast 50 Jahren mit dem Verkauf von Damenmode.
Seit 2002 betreibt sie „Very‘s Corner“in der Fußgängerzone, 1976 hatte sie sich mit ihrem Geschäft an der Brückstraße selbstständig gemacht. Doch jetzt soll Schluss sein. Das Ladenlokal soll verkauft werden. Weder wirtschaftliche noch gesundheitliche Gründe sind ausschlaggebend. „Die Familie wartet“, meint Veronika Märtin. Sie und ihr Mann werden Erkelenz verlassen und in die Nähe ihrer Söhne nach Bayern ziehen. „Sie haben uns bei einem Besuch über Ostern gefragt, ob wir uns einen Umzug vorstellen könnten, und wir haben spontan eingewilligt.“Sie wolle etwas von ihren Enkeln haben, als Großmutter deren Entwicklung vom Babyalter zu Jugendlichen miterleben.
Veronika Märtin hat viel in ihrem Berufsleben miterlebt: das Aufkommen der Outlet-Center, die zunehmende Bedeutung des Internet-Handels, den Wandel der Mode und den Generationenwechsel der Kundschaft. Alle Entwicklungen sind spurlos an ihr vorübergegangen, hatten keinen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg ihres Modegeschäfts. „Die Frau, die zu mir kommt, weiß, was sie bei mir erhält, nämlich gute Beratung, gute Qualität und einen dafür angemessenen Preis“, so lautete ihre Philosophie, die sie gerne an Mitbewerber weitergibt. „Wer sich selbst treu bleibt
und nicht immer mit allen Trends und Veränderungen mitschwimmt, dem bleiben auch die Kunden treu.“
Das Internet sieht sie nicht als Konkurrenz. „Am Bildschirm kann niemand ein Kleid anprobieren. Und eine persönliche Beratung gibt es nur im Flachgeschäft.“Über vermeintlich preiswerte Angebote in einem Outlet kann sie nur lächeln. „Dort findet sich nur selten das, was es bei mir gibt, nämlich ausgewählte Ware, die dem Geschmack meiner Kundinnen entspricht.“Es sei ein großer Faustpfand, mit dem eine erfolgreiche Kauffrau wuchern könne: das Wissen um die Wünsche der Kundinnen und zugleich die Fähigkeit, bei den Herstellern die Kleidung zu ordern, die dem Kundengeschmack entspricht. Veronika Märtin ist mit dieser Einstellung fast 50 Jahre lang gut gefahren. „Das liegt bestimmt auch daran, dass ich meine Kundinnen immer so bedient und beraten habe, wie ich es mir selbst wünsche, wenn ich in ein Fachgeschäft gehe.“Dann wüssten die Kundinnen bald, dass sie der Fachfrau in Kleiderfragen auch vertrauen können. Hinzu komme zweifelsohne die Qualität der Ware. Modeherstellers, hat sie dazu überzeugen können. Die Produkte aus St. James sind ein Aushängeschild im Angebot der Markenartikel, die die Kundschaft aus dem Ruhrgebiet oder Köln nach Erkelenz kommen lassen. Aber auch hier gilt: Alles für die Frau. Die Artikel für Männer sind selbst per Bestellung nicht erhältlich.
„Ohne Qualität geht nichts.“Qualität habe ihren Preis, aber das sei den Kundinnen bewusst. Sie wollen Mode mit Niveau.
Nach den vielen Jahren im eigenen Geschäft gibt es viele Stammkundinnen, deren Töchter inzwischen ebenfalls zu Kundinnen geworden sind. „Noch ein Faktor für den erfolgreichen Betrieb eines Geschäfts: Ich muss eine Bindung aufbauen zwischen Händler und Kunden.“Dazu gehöre neben Verkauf und Reparatur auch der permanente Kontakt. „Es freut mich immer wieder, wenn treue Kundinnen, die längst nicht mehr in Erkelenz wohnen, anrufen, um mir mitzuteilen, dass sie zu Besuch in die alte Heimat kommen und dann bei mir vorbeischauen wollen.“Veronika Märtin grinst: „Dann wird mein Geschäft zum Wohnzimmer.“Und sie gibt gleich den nächsten Ratschlag für einen möglichen Nachfolger: „Die Kundinnen müssen sich wohl fühlen.“Ob allerdings das Modegeschäft tatsächlich weitergeführt wird, weiß Veronika Märtin nicht. Sie weiß nur, dass sie schnellstmöglich aufhören möchte – der Familie wegen. Veronika Märtin Einzelhandelskauffrau
„Wer sich selbst treu bleibt, dem bleiben auch die Kunden treu“