Raus aus dem Tunnel!
Dienstag, 30. Juli. Eine Bundestagsabgeordnete der AfD kommentiert bei Twitter einen Bericht über die Horrortat am Frankfurter Hauptbahnhof so: „Frau Merkel, was wollen Sie uns noch antun? Sie werden nie wissen, was es bedeutet Mutter zu sein, weder für ein Kind, noch für dieses Land. Ich verfluche den Tag Ihrer Geburt.“50 mal mehr als ein normaler Tweet dieser Abgeordneten wurde der Post kommentiert oder verschickt. 1200 Menschen drückten „Gefällt mir“. Der Kindsmord als Teufelswerk der kinderlosen und flüchtlingsfreundlichen Kanzlerin – das kam an.
Mittwoch, 19. Juni. Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber nennt in der „Welt“unter anderem die Ex-CDU-Politikerin Erika Steinbach und CDU-Mitglied Max Otte mitschuldig am Tod von Walter Lübcke. Ein Rechtsextremer hatte den flüchtlingsfreundlichen Kommunalpolitiker erschossen. Otte und Steinbach sind wegen ihrer scharf konservativen Positionen umstritten. Tauber regt an, rechtsextremen Hetzern Grundrechte zu entziehen. Beifall im linken Lager.
Zwei Beispiele einer Debatte, die sich radikalisiert hat. Mühelos ließen sich beim Klima, bei der Besetzung der EU-Posten oder der Seenotrettung weitere finden. Die ideologischen Schützengräben sind gut besetzt. Es wird geballert, was an Munition vorhanden ist.
Jürgen Habermas, der große Philosoph, muss in seinem 91. Lebensjahr mit ansehen, wie seine Theorie, menschliche Vernunft sei Ergebnis kooperativer Kommunikation, zusammenfällt. Das gegenseitige Verständnis ist eliminiert. Die Gabe, anderen recht zu geben, ist verkümmert. Habermas räumt ein, das Internet habe eine „Verinselung“mit sich gebracht. Dabei wollten seine Gründer genau das Gegenteil: die weltweite Kommunikation fördern.
Was also tun? Verbal abrüsten wäre naheliegend. Überall. Am Stammtisch,
am Gartenzaun, in der Kantine. Im Netz. Das Graue betonen, nicht Schwarz und Weiß dominieren lassen. Und sich immer wieder zu dem Gedanken zwingen, der Andere könnte recht haben. Das Problem ist nur: Die Bestätigung der eigenen Sichtweise ist durch das permanente digitale Feedback zu einer Volksdroge geworden. Die allzu menschliche Sehnsucht nach Zuneigung ist im „Like“-Universum schneller und einfacher zu erfüllen als in der Familie oder dem Mitarbeitergespräch beim Chef.
Das führt zur Verstärkung der Tunnelsicht. Man bleibt bei den Argumenten und Positionen, die „Likes“garantieren, oder schließt sich solchen an. Der „Like“-Button wirkt dabei auf das Nervenzentrum wie Schokolade, haben Forscher der University of California herausgefunden. Teenagern wurden Hunderte Foto-Posts auf einem Computer gezeigt, zu einem Drittel waren es Posts der Befragten selbst. Daneben waren die „Likes“zu sehen, die die Bilder angeblich erhalten hatten. Wenn die eigenen Einträge aufploppten, reagierten die Neuronen in dem Teil des Gehirns, das als Belohnungszentrum bekannt ist, besonders heftig. Gleichzeitig klickten die Nutzer besonders gern auf vielfach „gelikte“Aufnahmen. Narzisstischer Herdentrieb.
Auch der Journalismus ist gefährdet, hinterfragt sich zu selten. Wir predigen viel, protokollieren zu wenig. Unsere Texte wimmeln von Meinungsvokalen: sollte, müsste. Wir kommentieren, bevor wir alle Hintergründe kennen. Auch der Autor dieser Zeilen ist betroffen. Diese Gesellschaft muss aber aufpassen, dass aus einem dysfunktionalen digitalen Diskurs nicht eine reale Spaltung wird. Dass enthemmte Sprache zu Taten führen kann, wissen Soziologen und Sicherheitsbehörden.
Diskurs im Sinne eines „argumentativen Dialogs“(Habermas) finden wir nur, wenn Emotionen und Vorurteile durch inhaltliche Tiefe, Fakten und argumentative Breite eingehegt werden. Die Härte, mit der Personen des öffentlichen Lebens ihre Positionen als absolute Wahrheit definieren, ist schädlich. Eine Differenzierung findet nicht statt.
Dabei gilt für Politiker wie für Journalisten und Wirtschaftsführer: Nur wer eine Position hinterfragt und die Meinung des anderen einbringt, gewinnt in der Bevölkerung Glaubwürdigkeit. Wer ständig recht haben will, dem glaubt man nicht. Oder um es mit Goethes Wilhelm Meister zu sagen: „Ach, welch ein Unterschied ist es, ob man sich oder die andern beurteilt.“
Die soziale Filterblase, das „Schmoren im eigenen Saft“, ist Gift für eine Volkswirtschaft, die nach Fortschritt und der bestmöglichen Lösung strebt. Das gilt gerade für so zentrale Debatten wie Klimaschutz oder Migration.
Den Protagonisten der beiden Pole – rechts gegen links – muss man aus der Mitte auf die Pelle rücken. Zwischen „Merkel und die Flüchtlingspolitik sind an allem schuld“und „Kritik an der Flüchtlingspolitik ist Rassismus“gibt es einen dritten Weg. Selbst wenn rechte Eiferer Kriminaltaten missbrauchen, muss die Öffentlichkeit darüber diskutieren, ob etwa nach Messerattacken und sexuellen Übergriffen durch Menschen mit nordafrikanischem Hintergrund deren Sozialisierung in einem autoritär geführten Staat damit etwas zu tun haben könnte. Bis heute hält die Bundespolizei eine Statistik zurück, nach der ein Großteil der sexuellen Übergriffe an Bahnhöfen 2018 auf Menschen aus Nicht-EU-Staaten zurückgeht. Aus Sorge vor der Eskalation.
Dabei sollten alle aus der Kölner Silvesternacht gelernt haben. „Einbruch der Wirklichkeit“nannte es der Autor Navid Kermani mit Blick auf die lückenhafte Berichterstattung über die Tätergruppen in den Jahren zuvor.
Auch religiös begründete Leitbilder mancher Zuwanderer können ein Problem sein und müssen stärker thematisiert werden. Antisemitische Attacken, der feindliche Umgang mit Homosexuellen sind Realität. Der islamkritische Psychologe Ahmad Mansour berichtet in seinem Buch „Klartext zur Integration“von einem in Berlin lebenden Palästinenser mit deutscher Staatsbürgerschaft, der seiner Frau und seinen Kindern sagt, was sie zu tun haben. „Sie sollen die Ehre der Familie hochhalten. Sie sollen wissen, woher sie kommen, wissen, dass sie Palästinenser sind und sonst nichts – und auf mich hören“. Kein Mehrheitsphänomen. Aber doch in zu vielen Haushalten existent.
Andererseits ist die verdruckste Berichterstattung über rechtsextremistische Taten und die unheilvolle Allianz mancher Sicherheitsbehörden mit der rechtsextremen Szene zutiefst verstörend. Das Staatsversagen beim NSU hat Migranten Angst gemacht, der rapide Zuwachs der Zahl der Taten und die Vernetzung der Täter müssen Politik, Medien, Sicherheitsbehörden viel stärker beschäftigen. Rechter Terror muss als rechter Terror bezeichnet werden. Rassismus ist ein Alltagsphänomen.
Maß und Mitte zu finden, bei jedem Vorfall, muss der Anspruch sein. Nachdenken, reflektieren, das Argument des anderen in Erwägung ziehen, bevor man die eigene Position festklopft. Der Perspektivwechsel ist das Lebenselixier einer freien Gesellschaft. Der zweite Blick muss erste Wahl werden.
Der Perspektivwechsel ist das Lebenselixier einer freien Gesellschaft