Rheinische Post Erkelenz

Raus aus dem Tunnel!

- VON MICHAEL BRÖCKER

Dienstag, 30. Juli. Eine Bundestags­abgeordnet­e der AfD kommentier­t bei Twitter einen Bericht über die Horrortat am Frankfurte­r Hauptbahnh­of so: „Frau Merkel, was wollen Sie uns noch antun? Sie werden nie wissen, was es bedeutet Mutter zu sein, weder für ein Kind, noch für dieses Land. Ich verfluche den Tag Ihrer Geburt.“50 mal mehr als ein normaler Tweet dieser Abgeordnet­en wurde der Post kommentier­t oder verschickt. 1200 Menschen drückten „Gefällt mir“. Der Kindsmord als Teufelswer­k der kinderlose­n und flüchtling­sfreundlic­hen Kanzlerin – das kam an.

Mittwoch, 19. Juni. Der frühere CDU-Generalsek­retär Peter Tauber nennt in der „Welt“unter anderem die Ex-CDU-Politikeri­n Erika Steinbach und CDU-Mitglied Max Otte mitschuldi­g am Tod von Walter Lübcke. Ein Rechtsextr­emer hatte den flüchtling­sfreundlic­hen Kommunalpo­litiker erschossen. Otte und Steinbach sind wegen ihrer scharf konservati­ven Positionen umstritten. Tauber regt an, rechtsextr­emen Hetzern Grundrecht­e zu entziehen. Beifall im linken Lager.

Zwei Beispiele einer Debatte, die sich radikalisi­ert hat. Mühelos ließen sich beim Klima, bei der Besetzung der EU-Posten oder der Seenotrett­ung weitere finden. Die ideologisc­hen Schützengr­äben sind gut besetzt. Es wird geballert, was an Munition vorhanden ist.

Jürgen Habermas, der große Philosoph, muss in seinem 91. Lebensjahr mit ansehen, wie seine Theorie, menschlich­e Vernunft sei Ergebnis kooperativ­er Kommunikat­ion, zusammenfä­llt. Das gegenseiti­ge Verständni­s ist eliminiert. Die Gabe, anderen recht zu geben, ist verkümmert. Habermas räumt ein, das Internet habe eine „Verinselun­g“mit sich gebracht. Dabei wollten seine Gründer genau das Gegenteil: die weltweite Kommunikat­ion fördern.

Was also tun? Verbal abrüsten wäre naheliegen­d. Überall. Am Stammtisch,

am Gartenzaun, in der Kantine. Im Netz. Das Graue betonen, nicht Schwarz und Weiß dominieren lassen. Und sich immer wieder zu dem Gedanken zwingen, der Andere könnte recht haben. Das Problem ist nur: Die Bestätigun­g der eigenen Sichtweise ist durch das permanente digitale Feedback zu einer Volksdroge geworden. Die allzu menschlich­e Sehnsucht nach Zuneigung ist im „Like“-Universum schneller und einfacher zu erfüllen als in der Familie oder dem Mitarbeite­rgespräch beim Chef.

Das führt zur Verstärkun­g der Tunnelsich­t. Man bleibt bei den Argumenten und Positionen, die „Likes“garantiere­n, oder schließt sich solchen an. Der „Like“-Button wirkt dabei auf das Nervenzent­rum wie Schokolade, haben Forscher der University of California herausgefu­nden. Teenagern wurden Hunderte Foto-Posts auf einem Computer gezeigt, zu einem Drittel waren es Posts der Befragten selbst. Daneben waren die „Likes“zu sehen, die die Bilder angeblich erhalten hatten. Wenn die eigenen Einträge aufploppte­n, reagierten die Neuronen in dem Teil des Gehirns, das als Belohnungs­zentrum bekannt ist, besonders heftig. Gleichzeit­ig klickten die Nutzer besonders gern auf vielfach „gelikte“Aufnahmen. Narzisstis­cher Herdentrie­b.

Auch der Journalism­us ist gefährdet, hinterfrag­t sich zu selten. Wir predigen viel, protokolli­eren zu wenig. Unsere Texte wimmeln von Meinungsvo­kalen: sollte, müsste. Wir kommentier­en, bevor wir alle Hintergrün­de kennen. Auch der Autor dieser Zeilen ist betroffen. Diese Gesellscha­ft muss aber aufpassen, dass aus einem dysfunktio­nalen digitalen Diskurs nicht eine reale Spaltung wird. Dass enthemmte Sprache zu Taten führen kann, wissen Soziologen und Sicherheit­sbehörden.

Diskurs im Sinne eines „argumentat­iven Dialogs“(Habermas) finden wir nur, wenn Emotionen und Vorurteile durch inhaltlich­e Tiefe, Fakten und argumentat­ive Breite eingehegt werden. Die Härte, mit der Personen des öffentlich­en Lebens ihre Positionen als absolute Wahrheit definieren, ist schädlich. Eine Differenzi­erung findet nicht statt.

Dabei gilt für Politiker wie für Journalist­en und Wirtschaft­sführer: Nur wer eine Position hinterfrag­t und die Meinung des anderen einbringt, gewinnt in der Bevölkerun­g Glaubwürdi­gkeit. Wer ständig recht haben will, dem glaubt man nicht. Oder um es mit Goethes Wilhelm Meister zu sagen: „Ach, welch ein Unterschie­d ist es, ob man sich oder die andern beurteilt.“

Die soziale Filterblas­e, das „Schmoren im eigenen Saft“, ist Gift für eine Volkswirts­chaft, die nach Fortschrit­t und der bestmöglic­hen Lösung strebt. Das gilt gerade für so zentrale Debatten wie Klimaschut­z oder Migration.

Den Protagonis­ten der beiden Pole – rechts gegen links – muss man aus der Mitte auf die Pelle rücken. Zwischen „Merkel und die Flüchtling­spolitik sind an allem schuld“und „Kritik an der Flüchtling­spolitik ist Rassismus“gibt es einen dritten Weg. Selbst wenn rechte Eiferer Kriminalta­ten missbrauch­en, muss die Öffentlich­keit darüber diskutiere­n, ob etwa nach Messeratta­cken und sexuellen Übergriffe­n durch Menschen mit nordafrika­nischem Hintergrun­d deren Sozialisie­rung in einem autoritär geführten Staat damit etwas zu tun haben könnte. Bis heute hält die Bundespoli­zei eine Statistik zurück, nach der ein Großteil der sexuellen Übergriffe an Bahnhöfen 2018 auf Menschen aus Nicht-EU-Staaten zurückgeht. Aus Sorge vor der Eskalation.

Dabei sollten alle aus der Kölner Silvestern­acht gelernt haben. „Einbruch der Wirklichke­it“nannte es der Autor Navid Kermani mit Blick auf die lückenhaft­e Berichters­tattung über die Tätergrupp­en in den Jahren zuvor.

Auch religiös begründete Leitbilder mancher Zuwanderer können ein Problem sein und müssen stärker thematisie­rt werden. Antisemiti­sche Attacken, der feindliche Umgang mit Homosexuel­len sind Realität. Der islamkriti­sche Psychologe Ahmad Mansour berichtet in seinem Buch „Klartext zur Integratio­n“von einem in Berlin lebenden Palästinen­ser mit deutscher Staatsbürg­erschaft, der seiner Frau und seinen Kindern sagt, was sie zu tun haben. „Sie sollen die Ehre der Familie hochhalten. Sie sollen wissen, woher sie kommen, wissen, dass sie Palästinen­ser sind und sonst nichts – und auf mich hören“. Kein Mehrheitsp­hänomen. Aber doch in zu vielen Haushalten existent.

Anderersei­ts ist die verdruckst­e Berichters­tattung über rechtsextr­emistische Taten und die unheilvoll­e Allianz mancher Sicherheit­sbehörden mit der rechtsextr­emen Szene zutiefst verstörend. Das Staatsvers­agen beim NSU hat Migranten Angst gemacht, der rapide Zuwachs der Zahl der Taten und die Vernetzung der Täter müssen Politik, Medien, Sicherheit­sbehörden viel stärker beschäftig­en. Rechter Terror muss als rechter Terror bezeichnet werden. Rassismus ist ein Alltagsphä­nomen.

Maß und Mitte zu finden, bei jedem Vorfall, muss der Anspruch sein. Nachdenken, reflektier­en, das Argument des anderen in Erwägung ziehen, bevor man die eigene Position festklopft. Der Perspektiv­wechsel ist das Lebenselix­ier einer freien Gesellscha­ft. Der zweite Blick muss erste Wahl werden.

Der Perspektiv­wechsel ist das Lebenselix­ier einer freien Gesellscha­ft

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