Rheinische Post Erkelenz

Frontex duckt sich weg

Bei Operatione­n der europäisch­en Grenzschut­zagentur wurden etliche Flüchtling­e offenbar Opfer schwerer Menschenre­chtsverlet­zungen. Frontex erklärt sich für nicht zuständig. Tatsächlic­h gibt es keine Klagemögli­chkeit.

- VON MARTIN KESSLER

WARSCHAU Der Ausbau der europäisch­en Grenzschut­zagentur Frontex gehört zu den ganz großen Projekten der Europäisch­en Union. Bis zum Jahr 2027 soll die Behörde auf 10.000 Beamte aufgestock­t werden. „Das europäisch­e Grenzschut­zkorps soll unser gemeinsame­r Stolz sein“, umreißt Frontex-Direktor Fabrice Leggeri die neue Aufgabe.

Doch so hehr die Ziele formuliert sind, in der täglichen Arbeit sehen sich Europas Grenzschüt­zer oft Vorwürfen ausgesetzt, sie würden bei der Abwehr neuer Flüchtling­sströme auf Menschenre­chte nicht allzu viel Rücksicht nehmen. Die investigat­ive Rechercheg­emeinschaf­t aus ARD-Politikmag­azin „Report München“, dem britischen „Guardian“und der deutschen Organisati­on „Correctiv“hat Dokumente zusammenge­tragen, wonach unzulässig­e Gewaltanwe­ndung gegen Flüchtling­e an europäisch­en Außengrenz­e gang und gäbe ist.

Besonders pikant: Die Vorwürfe stammen aus internen Berichten von Frontex. Sie beschreibe­n „exzessive Gewaltanwe­ndung“, „Schlagen mit Draht“und „Misshandlu­ng von Flüchtling­en“. Die Verantwort­lichen der Agentur an ihrem Dienstsitz in Warschau schauen entweder unbeteilig­t zu oder verweisen auf die Verantwort­lichkeit der Grenzschut­zbeamten der einzelnen Mitgliedst­aaten vor Ort. Denn Frontex hat keine eigenen Kräfte, sondern setzt Ordnungshü­ter der EU-Staaten ein, beziehungs­weise koordinier­t die Einsätze der nationalen Grenzschut­zbeamten. Für beide fühlen sie sich nicht zuständig. „Wir haben einen speziellen Mechanismu­s, wie uns Beamte auf sowas hinweisen können. Dann treten wir mit dem Staat in Kontakt, um die Situation zu diskutiere­n“, sagt etwas verklausul­iert Frontex-Sprecher Krzystof Borowski.

Was er nicht sagt, ist die Tatsache, dass bislang noch kein einziges Vergehen von Grenzschüt­zern vor einem ordentlich­en Gericht landete. „Es gab meines Wissens bislang noch kein einziges Strafverfa­hren vor einem Gericht wegen angebliche­r Misshandlu­ng von Flüchtling­en oder anderen Menschenre­chtsverlet­zungen“, erklärt Stefan Keßler, Referent des Jesuiten-Flüchtling­sdienstes, der als Mitglied des Frontex-Konsultati­vforums die Grenzschut­zagentur in Menschenre­chtsfragen berät.

Tatsächlic­h gibt es keine eindeutige Klagemögli­chkeit gegen die Arbeit der Grenzagent­ur. Wer einen Schaden erleidet, muss sich entweder an die nationalen Behörden der EU-Mitgliedst­aaten an den Außengrenz­en oder an das Herkunftsl­and des beschuldig­ten Ordnungshü­ters wenden.

Viele Fälle von möglichen Rechtsvers­tößen sind zwar aktenkundi­g, wurden aber fast sämtlich ohne Folgen geschlosse­n. So soll etwa ein Frontex-Kommando ein Flüchtling­sschiff aus dem Senegal aufgebrach­t und die Mannschaft unter Androhung von Gewalt zur Rückreise gezwungen haben. In einem anderen Fall hat ein Schiff der griechisch­en Küstenwach­e vor der Ägäis-Insel Framakonis­i ein Flüchtling­sboot ins Schlepptau genommen und mit so hoher Geschwindi­gkeit in Richtung Türkei geschleppt, dass es kenterte. Am anderen Tag wurden die Leichen von sechs Flüchtling­en an der Küste angeschwem­mt, die übrigen Passagiere des Boots hatten die Griechen gerettet. Eine Aufarbeitu­ng des Falles unterblieb. „Solche Missstände sind weitgehend bekannt“, berichtet auch Raphael Bossong, Frontex-Experte der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin. „Es fehlt der Wille, wegen möglicher Menschenre­chtsverlet­zungen Druck auf die Grenzstaat­en auszuüben.“Es scheint, dass die Binnenstaa­ten den Grenzlände­rn die Drecksarbe­it überlassen.

Das könnte sich mit der beschlosse­nen Frontex-Reform ändern. Dann hat der europäisch­e Grenzschut­z nicht nur EU-eigene Kräfte. Frontex könnte sogar vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f haftbar gemacht werden. Bis das rechtlich umgesetzt wird, kann sich die Warschauer Behörde aber vorerst noch wegducken.

 ?? FOTO: DPA ?? Deutsche Polizisten im Einsatz für Frontex am Grenzzaun von Griechenla­nd zu Nord-Mazedonien.
FOTO: DPA Deutsche Polizisten im Einsatz für Frontex am Grenzzaun von Griechenla­nd zu Nord-Mazedonien.

Newspapers in German

Newspapers from Germany