Psychosen – wenn sich die Realität wahnhaft verzerrt
Der Eritreer, der in Frankfurt einen Jungen vor einen ICE gestoßen haben soll, leidet offenbar an einer Psychose. Das ist eine weit verbreitete psychische Störung.
In der Medizin verheißt die Endung „-ose“nichts Gutes. Meist hat sich ein Zustand krankhaft verändert. Zu viele weiße Blutkörperchen (Leukozytose). Blutgerinnsel (Thrombose). Störung im Säure-Basen-Haushalt (Alkalose). Gewebe der Gebärmutterschleimhaut, das bis in den Bauchraum vorgedrungen ist (Endometriose). Abnutzung des Gelenks (Arthrose). Kalziummangel im Knochen, der zur Brüchigkeit führt (Osteoporose).
Wenn ein Mensch die Realität verändert wahrnimmt und verarbeitet, spricht man von einer Psychose. Meistens leidet er unter Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder sogenannten Ich-Störungen. Er verliert den Bezug zur Realität, sie vernebelt, verdüstert, verzerrt sich. Der Antrieb versandet. Der Glaube nimmt überhand, jemand anderer erteile einem Befehle, kontrolliere die eigenen Gedanken oder raube sie gar. Der Volksmund irrt nicht, wenn er von einem Psychotiker sagt, er höre Stimmen. Solche Verwandlungen der tatsächlichen in eine empfundene, wahnhafte Realität bedürfen eines erfahrenen Psychiaters, sofern sich eine psychotische Störung nicht von selbst reguliert oder gar in Luft auflöst – das ist gar nicht so selten der Fall.
Bei dem Eritreer, der in Frankfurt ein Kind vor einen ICE gestoßen haben soll, lag offenbar eine psychotische Störung vor; schon Monate zuvor waren bei dem Mann paranoide Züge diagnostiziert worden. Die Schwere seiner Krankheit wird derzeit ermittelt. Liegt sie in seiner Biografie verborgen? Eritrea gilt als das „Nordkorea Afrikas“; viele Menschen erleben Folter und Sklaverei. Ob der Mann beides erlitten hat, ist nicht bekannt. Zuvor habe er sich unauffällig verhalten, heißt es; möglicherweise ist die Krankheit vor einigen Monaten plötzlich zum Ausbruch gekommen und hat sich in der Frankfurter Tat erstmals manifestiert – auf furchtbarste Weise.
Das Problematische ist, dass Psychosen im Sinne der ICD (internationale Codierung der Leiden) keine eigenständige Erkrankung darstellen, sondern die Folge einer anderen sind. Deshalb unterscheidet man zwischen organischen und nicht-organischen Psychosen. Statistisch treten sie bei Männern und
Frauen gleich häufig auf, zudem gelten sie als häufige Krankheit: Weltweit erkranken etwa drei Prozent der Bevölkerung im Laufe des Lebens an einer Psychose. Viele Formen von Psychosen beginnen zwischen der Pubertät und dem 35. Lebensjahr. Im Alter sind Psychosen oder psychotische Zustände bei internistisch relevanten Erkrankungen oder bei neurodegenerativen Hirnerkrankungen wie der Demenz häufig. Statistiker sprechen von einem zweigipfligen Altersverlauf.
Der genetische Aspekt spielt vor allem bei den nicht-organischen eine auffällige Rolle: Zehn Prozent der Kinder erkranken, wenn ein Elternteil betroffen ist. 30 Prozent der Kinder erkranken, wenn beide Elternteile betroffen sind. Und 50 Prozent der eineiigen Zwillingsgeschwister erkranken, wenn der andere Zwilling betroffen ist.
Die organische Variante ist reich an Ursachen. Infektionen des Gehirns (wie eine Hirnhautentzündung oder eine Neurosyphilis) können psychotische Symptome befördern, ebenso Epilepsie, ein Schlaganfall oder ein Tumor in einer bestimmten Hirnregion. Autoimmunerkrankungen, bei denen der Organismus körpereigenes Gewebe als fremd erkennt und angreift, stehen ebenso auf der Liste der Ursachen wie manche Formen der Demenz, vor allem die Alzheimer- und die Levy-Körperchen-Demenz (die sich häufig mit visuellen Halluzinationen, aber auch mit Depression und Wahnvorstellungen meldet).
Bei anderen organischen Ursachen haben die Erkrankten in der Regel weitere Symptome, die den Auslöser genau eruieren lassen – beispielsweise eine Stoffwechselkrankheit wie die Porphyrie, die meistens, aber eben nicht immer durch heftige Bauchschmerzen imponiert. Wird eine Porphyrie allerdings übersehen (was in der Medizin durchaus vorkommen kann), dann bekommt der Patient einen falschen Stempel aufgedrückt, und seine psychotischen Störungen werden ungerechtfertigt in den Vordergrund geschoben. Bei einer massiven Unterzuckerung kann es ebenfalls zu psychotischen Symptomen kommen – wird diese Störung behoben, verschwindet meist auch das psychotische Symptom. Auch Medikamente oder Drogenmissbrauch können psychotische Schübe auslösen, sogar harmlose Elektrolyt-Entgleisungen wie etwa eine Verschiebung im Natrium-Haushalt.
Während man bei den organisch bedingten Psychosen vor allem die Primärkrankheit behandelt, sieht es bei den nicht-organischen, den sogenannten primären Psychosen anders und auch komplizierter aus. Ist eine Schizophrenie der Mutterboden einer Psychose, liegt ein gestörter Hirnstoffwechsel vor.
Zum Beispiel ist bekannt, dass bei Schizophrenie die Emotionsregulation nicht funktioniert; die Betroffenen können den körperlichen Abstand zu Mitmenschen nicht kontrollieren und haben Probleme in der Kommunikation. Vor einigen Jahren zeigte eine im „American Journal of Psychiatry“publizierte Studie, dass bei Patienten mit einer paranoiden Schizophrenie das Zusammenspiel der Hirnbotenstoffe etwa mit der Amygdala (dem Angstzentrum im Gehirn) verändert ist. Sie reagierten auf neutrale Gesichtsausdrücke mit einer unangemessen starken Aktivierung der Amygdala. Die Überaktivität dieses Angstgenerators könnte zur Entwicklung ängstlich-psychotischer und impulsiver Symptome beitragen. Das heißt: Ein unbekanntes Gesicht kann bei einem Psychotiker, der an Schizophrenie erkrankt ist, eine übersteigerte Reaktion auslösen.
Aber es gibt nicht nur die Schizophrenie, auf der Psychosen gedeihen. Auch bei den sogenannten affektiven Störungen zwischen Manie und Depression rollen die Bälle heftig hin und her, wie überhaupt sich bei den nicht-organischen Psychosen viele Mischformen ergeben. Daneben gibt es aber auch Risikofaktoren. Genetische Faktoren beeinflussen die Erkrankung, bestimmen sie aber nicht vollständig. Infekte, Traumata, anhaltender sozialer Stress, Gifte können die Gehirnsubstanz und den Nervenstoffwechsel verändern, das kann eine Psychose begünstigen. Akute Belastungen (berufliche Überlastung, Ärger, Kränkungen, Verluste, Ortswechsel) machen das System verletzlich und verschieben ebenfalls den Nervenstoffwechsel. Man sagt in der Psychiatrie: Je höher die Verletzlichkeit ist, desto weniger auffällig müssen die Auslöser sein, um die Erkrankung in Gang zu bringen.
Entscheidend ist, dass Betroffene schon bei ersten Zeichen wahnhaften Erlebens zum Arzt gehen. Denn je früher sie therapeutisch begleitet werden, desto besser ihre Prognose. Im Gegensatz zu anderen Krankheiten ist die medikamentöse Behandlung jeder weiteren Therapieform überlegen. Sie wird mit sogenannten Antipsychotika (Neuroleptika) durchgeführt. Wichtig ist, dass die Patienten therapietreu bleiben: 70 bis 80 Prozent der nicht mit Antipsychotika behandelten Patienten erkranken innerhalb eines Jahres erneut. Werden sie abgesetzt, ist ein Rückfall wahrscheinlich.
Gewichtszunahme ist eine häufige Nebenwirkung. Hier gilt es, dass der Arzt die optimale Dosierung und auch den emotionalen Zugang zum Patienten findet, damit sich therapeutischer Effekt und Nebenwirkungen in einem akzeptablen Verhältnis befinden.
Psychosen werden mit Medikamenten behandelt, wenn organische Ursachen ausscheiden