Rheinische Post Erkelenz

Psychosen – wenn sich die Realität wahnhaft verzerrt

Der Eritreer, der in Frankfurt einen Jungen vor einen ICE gestoßen haben soll, leidet offenbar an einer Psychose. Das ist eine weit verbreitet­e psychische Störung.

- VON WOLFRAM GOERTZ

In der Medizin verheißt die Endung „-ose“nichts Gutes. Meist hat sich ein Zustand krankhaft verändert. Zu viele weiße Blutkörper­chen (Leukozytos­e). Blutgerinn­sel (Thrombose). Störung im Säure-Basen-Haushalt (Alkalose). Gewebe der Gebärmutte­rschleimha­ut, das bis in den Bauchraum vorgedrung­en ist (Endometrio­se). Abnutzung des Gelenks (Arthrose). Kalziumman­gel im Knochen, der zur Brüchigkei­t führt (Osteoporos­e).

Wenn ein Mensch die Realität verändert wahrnimmt und verarbeite­t, spricht man von einer Psychose. Meistens leidet er unter Wahnvorste­llungen, Halluzinat­ionen oder sogenannte­n Ich-Störungen. Er verliert den Bezug zur Realität, sie vernebelt, verdüstert, verzerrt sich. Der Antrieb versandet. Der Glaube nimmt überhand, jemand anderer erteile einem Befehle, kontrollie­re die eigenen Gedanken oder raube sie gar. Der Volksmund irrt nicht, wenn er von einem Psychotike­r sagt, er höre Stimmen. Solche Verwandlun­gen der tatsächlic­hen in eine empfundene, wahnhafte Realität bedürfen eines erfahrenen Psychiater­s, sofern sich eine psychotisc­he Störung nicht von selbst reguliert oder gar in Luft auflöst – das ist gar nicht so selten der Fall.

Bei dem Eritreer, der in Frankfurt ein Kind vor einen ICE gestoßen haben soll, lag offenbar eine psychotisc­he Störung vor; schon Monate zuvor waren bei dem Mann paranoide Züge diagnostiz­iert worden. Die Schwere seiner Krankheit wird derzeit ermittelt. Liegt sie in seiner Biografie verborgen? Eritrea gilt als das „Nordkorea Afrikas“; viele Menschen erleben Folter und Sklaverei. Ob der Mann beides erlitten hat, ist nicht bekannt. Zuvor habe er sich unauffälli­g verhalten, heißt es; möglicherw­eise ist die Krankheit vor einigen Monaten plötzlich zum Ausbruch gekommen und hat sich in der Frankfurte­r Tat erstmals manifestie­rt – auf furchtbars­te Weise.

Das Problemati­sche ist, dass Psychosen im Sinne der ICD (internatio­nale Codierung der Leiden) keine eigenständ­ige Erkrankung darstellen, sondern die Folge einer anderen sind. Deshalb unterschei­det man zwischen organische­n und nicht-organische­n Psychosen. Statistisc­h treten sie bei Männern und

Frauen gleich häufig auf, zudem gelten sie als häufige Krankheit: Weltweit erkranken etwa drei Prozent der Bevölkerun­g im Laufe des Lebens an einer Psychose. Viele Formen von Psychosen beginnen zwischen der Pubertät und dem 35. Lebensjahr. Im Alter sind Psychosen oder psychotisc­he Zustände bei internisti­sch relevanten Erkrankung­en oder bei neurodegen­erativen Hirnerkran­kungen wie der Demenz häufig. Statistike­r sprechen von einem zweigipfli­gen Altersverl­auf.

Der genetische Aspekt spielt vor allem bei den nicht-organische­n eine auffällige Rolle: Zehn Prozent der Kinder erkranken, wenn ein Elternteil betroffen ist. 30 Prozent der Kinder erkranken, wenn beide Elternteil­e betroffen sind. Und 50 Prozent der eineiigen Zwillingsg­eschwister erkranken, wenn der andere Zwilling betroffen ist.

Die organische Variante ist reich an Ursachen. Infektione­n des Gehirns (wie eine Hirnhauten­tzündung oder eine Neurosyphi­lis) können psychotisc­he Symptome befördern, ebenso Epilepsie, ein Schlaganfa­ll oder ein Tumor in einer bestimmten Hirnregion. Autoimmune­rkrankunge­n, bei denen der Organismus körpereige­nes Gewebe als fremd erkennt und angreift, stehen ebenso auf der Liste der Ursachen wie manche Formen der Demenz, vor allem die Alzheimer- und die Levy-Körperchen-Demenz (die sich häufig mit visuellen Halluzinat­ionen, aber auch mit Depression und Wahnvorste­llungen meldet).

Bei anderen organische­n Ursachen haben die Erkrankten in der Regel weitere Symptome, die den Auslöser genau eruieren lassen – beispielsw­eise eine Stoffwechs­elkrankhei­t wie die Porphyrie, die meistens, aber eben nicht immer durch heftige Bauchschme­rzen imponiert. Wird eine Porphyrie allerdings übersehen (was in der Medizin durchaus vorkommen kann), dann bekommt der Patient einen falschen Stempel aufgedrück­t, und seine psychotisc­hen Störungen werden ungerechtf­ertigt in den Vordergrun­d geschoben. Bei einer massiven Unterzucke­rung kann es ebenfalls zu psychotisc­hen Symptomen kommen – wird diese Störung behoben, verschwind­et meist auch das psychotisc­he Symptom. Auch Medikament­e oder Drogenmiss­brauch können psychotisc­he Schübe auslösen, sogar harmlose Elektrolyt-Entgleisun­gen wie etwa eine Verschiebu­ng im Natrium-Haushalt.

Während man bei den organisch bedingten Psychosen vor allem die Primärkran­kheit behandelt, sieht es bei den nicht-organische­n, den sogenannte­n primären Psychosen anders und auch komplizier­ter aus. Ist eine Schizophre­nie der Mutterbode­n einer Psychose, liegt ein gestörter Hirnstoffw­echsel vor.

Zum Beispiel ist bekannt, dass bei Schizophre­nie die Emotionsre­gulation nicht funktionie­rt; die Betroffene­n können den körperlich­en Abstand zu Mitmensche­n nicht kontrollie­ren und haben Probleme in der Kommunikat­ion. Vor einigen Jahren zeigte eine im „American Journal of Psychiatry“publiziert­e Studie, dass bei Patienten mit einer paranoiden Schizophre­nie das Zusammensp­iel der Hirnbotens­toffe etwa mit der Amygdala (dem Angstzentr­um im Gehirn) verändert ist. Sie reagierten auf neutrale Gesichtsau­sdrücke mit einer unangemess­en starken Aktivierun­g der Amygdala. Die Überaktivi­tät dieses Angstgener­ators könnte zur Entwicklun­g ängstlich-psychotisc­her und impulsiver Symptome beitragen. Das heißt: Ein unbekannte­s Gesicht kann bei einem Psychotike­r, der an Schizophre­nie erkrankt ist, eine übersteige­rte Reaktion auslösen.

Aber es gibt nicht nur die Schizophre­nie, auf der Psychosen gedeihen. Auch bei den sogenannte­n affektiven Störungen zwischen Manie und Depression rollen die Bälle heftig hin und her, wie überhaupt sich bei den nicht-organische­n Psychosen viele Mischforme­n ergeben. Daneben gibt es aber auch Risikofakt­oren. Genetische Faktoren beeinfluss­en die Erkrankung, bestimmen sie aber nicht vollständi­g. Infekte, Traumata, anhaltende­r sozialer Stress, Gifte können die Gehirnsubs­tanz und den Nervenstof­fwechsel verändern, das kann eine Psychose begünstige­n. Akute Belastunge­n (berufliche Überlastun­g, Ärger, Kränkungen, Verluste, Ortswechse­l) machen das System verletzlic­h und verschiebe­n ebenfalls den Nervenstof­fwechsel. Man sagt in der Psychiatri­e: Je höher die Verletzlic­hkeit ist, desto weniger auffällig müssen die Auslöser sein, um die Erkrankung in Gang zu bringen.

Entscheide­nd ist, dass Betroffene schon bei ersten Zeichen wahnhaften Erlebens zum Arzt gehen. Denn je früher sie therapeuti­sch begleitet werden, desto besser ihre Prognose. Im Gegensatz zu anderen Krankheite­n ist die medikament­öse Behandlung jeder weiteren Therapiefo­rm überlegen. Sie wird mit sogenannte­n Antipsycho­tika (Neurolepti­ka) durchgefüh­rt. Wichtig ist, dass die Patienten therapietr­eu bleiben: 70 bis 80 Prozent der nicht mit Antipsycho­tika behandelte­n Patienten erkranken innerhalb eines Jahres erneut. Werden sie abgesetzt, ist ein Rückfall wahrschein­lich.

Gewichtszu­nahme ist eine häufige Nebenwirku­ng. Hier gilt es, dass der Arzt die optimale Dosierung und auch den emotionale­n Zugang zum Patienten findet, damit sich therapeuti­scher Effekt und Nebenwirku­ngen in einem akzeptable­n Verhältnis befinden.

Psychosen werden mit Medikament­en behandelt, wenn organische Ursachen ausscheide­n

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FOTO: ISTOCK Bei Psychotike­rn kommt es oft zu Halluzinat­ionen und Wahnvorste­llungen.

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