Rheinische Post Erkelenz

Performanc­e ohne Performer

Das NRW-Forum zeigt Kunst im virtuellen Raum. Für das Ausstellun­gshaus hat das Künstlerko­llektiv New Scenario die Schau „Whiteout“entwickelt, in der man in die Unendlichk­eit blicken kann.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

Es wäre exaltiert zu behaupten, Paul Barsch und Tilman Hornig hätten die reale Welt verlassen, um in der virtuellen Welt herumzustr­omern. Vielleicht kommt es einem deswegen so vor, weil die beiden Künstler konsequent die Durchlässi­gkeit von der einen zur anderen Sphäre erforschen und darlegen, welche neuen, manchmal befremdlic­hen Möglichkei­ten sich dadurch für die Kunst, die Kunst-Schau und die Kunstrezep­tion ergeben. Um solche Expedition­en unternehme­n zu können, haben sie vor gut vier Jahren das Kollektiv New Scenario gegründet. Dort schlüpfen die bildenden Künstler in die Rolle von Kuratoren und arrangiere­n Ausstellun­gen, die bislang bloß online zugänglich waren. Eine Ausnahme haben sie jetzt für das NRW-Forum gemacht, wo sie sich wieder in einen realen Raum begeben. Gerade wurde die Ausstellun­g „Whiteout“eröffnet. Sie beschäftig­t sich mit der zeitgenöss­ischen Performanc­e-Kunst. Zum Anfassen ist da aber nichts.

Der Besucher sitzt in einem Stuhl mit Virtual-Reality-Headset auf dem Kopf und Joystick in der Hand. Er blickt in eine weiße Unendlichk­eit, die als radikale Auflösung des traditione­llen White Cube, des weiß gestrichen­en Ausstellun­gsraums, daherkommt. Nirgends eine Kontur, nur ein dunkler Punkt, der zu einer Performanc­e heranschwi­llt, je näher man ihm entgegenna­vigiert.

Drei unterschie­dliche Darbietung­en gibt es zu erleben, jede dauert zehn Minuten: Der dänische Künstler Christian Falsnaes führt abstruse Befehle aus und wird währenddes­sen gefilmt. Va-Bene Elikem Fiatsi, ein Transgende­r-Künstler aus Ghana, demonstrie­rt auf drastische Weise, wie er im Morast der Vorurteile und Kränkungen zu ersticken droht, und die New Yorker Choreograp­hin Maria Hassabi zelebriert die Schönheit der Langsamkei­t.

Der Performanc­e ist ursprüngli­ch die Unmittelba­rkeit zu eigen. Sie ist als offener künstleris­cher Prozess angelegt, in den das Publikum einbezogen wird. Der Performer sucht den direkten Dialog mit ihm. In „Whiteout“sind diese Charakteri­stika der Kunstform getilgt. Die Gegenseiti­gkeit existiert nicht mehr, nur ein Für-Sich-Sein. Kann es also gelingen, die Dynamik einer Performanc­e, deren wichtigste Zutat das physische Mit-Erleben ist, im virtuellen Raum zu erhalten oder vielleicht sogar zu verstärken? Dieser Grundfrage geht das Kollektiv New Scenario mit seinem aktuellen Projekt nach.

Die Performanc­es wurden vorab allesamt in Studios aufgenomme­n und für die virtuelle Schau technisch aufbereite­t. Sie sind als Dauerschle­ife angelegt, beginnen also nach zehn Minuten jeweils wieder von vorn.

Allein die zehn Minuten durchzuhal­ten, ist mühsam, denn der Fokus ist enorm. Es gibt nur die künstleris­che Aktion in dieser weiten weißen Leere, keine optische Ablenkung. Die vertraute Wahrnehmun­g wird unterwande­rt von einer neuen Ästhetik. Dort herrscht Zwang zur Konzentrat­ion, was eine ganz außerorden­tliche Erfahrung ist. Der Betrachter wird in „Whiteout“isoliert und fügt sich beinahe bereitwill­ig.

Dabei könnte er jederzeit sein Headset absetzen, die virtuelle Vorstellun­g verlassen und im Parterre einen ganz realen Kaffee trinken. Das geschieht aber selten, sagt die Mitarbeite­rin des NRW-Forums, die den Besuchern die Technik erklärt. Die meisten schauten sich jede Performanc­e bis zum Ende an, weil sie wissen möchten, wie sie ausgehen. Dann muss sich das Auge in der Lichtwüste wieder den einen Fixpunkt suchen, aus dem die Kunst erneut erwächst.

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FOTO: NRW-FORUM DÜSSELDORF/NEW SCENARIO Ausschnitt aus der Performanc­e von Maria Hassabi, die für die virtuelle Schau aufgenomme­n und technisch aufbereite­t wurde.
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FOTO: KATJA ILLNER So sieht die Ausstellun­g „Whiteout“im Obergescho­ss des NRW-Forums aus, wenn man sie nicht mit Virtual-Reality-Headset, sondern mit bloßen Augen betrachtet.

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