Als der Wagen nicht kam
Dass die Amerikaner seine Anwesenheit in Deutschland nicht wünschten, wurde bald allgemeine Überzeugung, ebenso aber auch die Ansicht, dass die neu in die Macht hineinwachsenden deutschen Politiker wie Adenauer und Kaiser froh waren, dass er nicht erschien, weil sie wussten, dass Brüning zwangsläufig die Macht zugefallen wäre.
Brüning besaß starke politische Leidenschaft. Sie war aber durch ethische Erwägungen und kühlen Verstand so gehemmt, dass er nicht zum Zuschlagen kam, wenn es nötig war. Man sagt meist von ihm, er habe keine Wirkkraft auf die Massen gehabt. Ich habe ihn in großen, unruhigen Versammlungen sprechen gehört, und nach einigen Sätzen waren die Leute gebannt von der Klarheit und Sicherheit, so dass man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen gehört. Alle Welt ist sich einig über seine Tüchtigkeit und sein Scheitern, aber niemand kann recht sagen, was er hätte besser machen können. Es war eine mit menschlichen Mitteln unlösbare Situation, in der er zwischen der Torheit der Alliierten, der Dämonie Hitlers und der vergreisten Beschränktheit Hindenburgs mit dessen unerfreulichem Anhang stand. Der Urgrund des Übels, von dem alles Unheil seinen Anfang nahm, war Hindenburg, und nicht umsonst hat Hitler ihm das fürstliche Waldgeschenk gemacht, das gleichzeitig Hindenburg menschlich erledigte, es sei denn, dass er die Zusammenhänge nicht mehr begriff und so der gesunde Erwerbssinn die Überhand bekam. Aber es war ja gerade Brüning, der Hindenburgs Wahl betrieben und gesichert hatte! Hat Brüning ihn verkannt in seiner ihm oft vorgeworfenen preußischen Traditionsgebundenheit?
Oder gab es überhaupt eine andere Figur, die man nach Lage der Dinge Hitler hätte bei der Präsidentenwahl entgegenstellen können? Brüning selbst hat nach 1945 Lukaschek und mir gesagt, Hindenburg sei bei seiner Entlassung nicht mehr im Besitz seiner geistigen Kräfte gewesen. Aber hätte man dann diesen geistigen Verfall wenige Wochen nach der Wahl nicht vor dieser schon voraussehen können mit den sich daraus ergebenden Folgen unkontrollierbarer Beeinflussung durch Leute wie Herrn von Papen und den Sohn Hindenburgs?
Diese und viele andere Fragen können einer Klärung nur näher kommen, wenn Brüning selbst zu ihnen Stellung nimmt. Er arbeitet jetzt seit einem Vierteljahrhundert an seinen Erinnerungen, und seitdem er 1955 endgültig wieder nach Vermont ging, ist es seine einzige Aufgabe. In seiner Gewissenhaftigkeit quält er sich offenbar mit dem Zwiespalt zwischen harten Urteilen – die er sehr wohl bei allem Anstand zu fällen versteht – und der Treue zur Wahrheit. Ich glaube nicht, dass er die Erinnerungen bei Lebzeiten herausbringen wird, und habe ihm neulich zu seinem 75. Geburtstag geschrieben, er möge sie trotz aller Bedenken doch veröffentlichen, schon um selbst noch die Reaktion der Öffentlichkeit zu erleben. Aber auch nach dem Erscheinen der Brüning’schen Erinnerungen wird man das schmutzige Gespinst von Untreue, Verrat, Dämonie, Macht, Eitelkeit und Geldgier, in dem er erstickt wurde, kaum durchsichtig entwirren können und wird bei dem Spruch des antiken Chors verbleiben: „Denn ein Gott hat es so gewollt.“Nach dem Sturz Brünings habe ich ihn noch einige Male in seiner klösterlichen Zuflucht in Berlin besucht. Die Pfortenschwester stritt zunächst seine Anwesenheit ab, und es bedurfte eines Vordringens zur Oberin, um zu ihm zu gelangen. Nach dem Kriege hat er mich in Berlin in einem unerhörten Ausmaß mit Lebensmittelpaketen aus Amerika unterstützt. Ich habe nachher erst erfahren, wie beschränkt seine finanziellen Mittel waren, und gemessen an diesen waren die Sendungen, die nicht nur an uns gingen, ein großes Opfer.
Als er Anfang 1950 seine Schwester in Münster besuchte, war er einen Abend mit Lukaschek zusammen bei uns. Wir hatten beide den Eindruck, dass er stark lehrhaft geworden war. Ein lockeres gegenseitiges Gespräch mit ihm war schwierig. Er dozierte und war retrospektiv eingestellt. Trotzdem wäre ihm etwa als Außenminister sicher wohl mehr eingefallen als Herrn von Brentano, und wenn er wieder in Aktion gekommen wäre, so würden die Mängel bald ausgeschliffen worden sein. Ich habe ihn dann noch einige Male wiedergesehen, und jedes Mal war die Abkehr von den Dingen gewachsen. Es war ein vornehmer Entschluss, dass er wieder nach Amerika ging, um keine anderen Kreise zu stören. Brüning scheint ein schlagendes Beispiel dafür zu sein, dass vornehme Gesinnung und erfolgreiche Politik schwer zu vereinbaren sind.
Seit Lukaschek Berlin verlassen hatte, fühlte ich mich dort doppelt vereinsamt und trotz aller Fehlschläge umso erpichter auf eine Gelegenheit zum Fortzug. Am 12. Januar 1948 zeigte mir der bei Omgus tätige Mr. Wolfsperger die Verlautbarung über den im Zuge der bizonalen Neuordnung in Köln zu schaffenden Gerichtshof, der eine Art von Verfassungsgericht darstellen sollte zur Wahrung der Einheitlichkeit des Rechts in beiden Zonen. Wolfsperger meinte, ob das nicht etwas Passendes für mich sei, was ich begierig bejahte, umso mehr, da wegen des Verhältnisses der Amerikaner zu den Russen Hochspannung herrschte. Am 23. Januar erhielt ich wenigstens schon das mit den Briten bereits abgestimmte Statut für den Gerichtshof. Dass es sachlich nicht gut war, interessierte mich weniger als der Umstand, dass nur Zivilrichter, aber keine höheren Verwaltungsbeamten als Richter vorgesehen waren, obschon es sich um überwiegend öffentlich- rechtliche Fragen handelte. Ich sorgte dafür, dass die Civil Administration dieses Verlangen stellte, wo natürlich niemand diese Unterscheidung kannte, ebenso wenig wie bei der Legal Division.
Nach stetem Drängen war es am 3. Februar so weit, dass Clay die Einfügung der Verwaltungsrichter billigte. Die Briten, wo ich unter der Hand vorgearbeitet hatte, stimmten ebenfalls zu, und am 5. Februar 1948 unterzeichneten Clay und Robertson die Proklamation Nr. 8 über die Errichtung eines deutschen Obergerichts für das vereinigte Wirtschaftsgebiet. Damit war die erste Runde geschafft, auf die ich stolz sein konnte in Anbetracht der unsagbaren Schwierigkeit, zwei bürokratische Maschinerien auf höchster Ebene binnen zwei Wochen dazu zu bringen, in eine zweiseitig bereits formulierte Urkunde eine, keinen Amerikaner oder Engländer irgendwie interessierende, ihnen zudem unverständliche Änderung einzufügen.