Nagelprobe für den Mindestlohn
Fast fünf Jahre nach der Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze fällt die Bilanz bisher positiv aus: Dem Jobwunder machte sie nichts aus. Doch die Bewährungsprobe steht ihr im Konjunkturabschwung noch bevor.
Was haben die Kritiker vor dem Start des gesetzlichen Mindestlohns geunkt! Bis zu 900.000 Arbeitslose prophezeite Hans-Werner Sinn, einer der profiliertesten deutschen Ökonomen. Nachdem 2015 der Mindestlohn von damals 8,50 Euro pro Stunde eingeführt worden war, passierte aber nichts dergleichen. Im Gegenteil: Die Beschäftigung explodierte, auch und gerade in den unteren Lohngruppen. Fünf Millionen Erwerbstätige und drei Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs zählt Deutschland heute mehr als damals. Die Stundenlöhne unterer Einkommensgruppen machten einen Sprung nach oben.
Fast fünf Jahre später fällt die Bilanz der Fachleute durchweg positiv aus, die Kassandrarufe sind verhallt. „Wir Ökonomen mussten eingestehen, dass unsere Prognosen komplett falsch waren. Unsere Warnungen waren überzogen“, sagt der Kölner Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann. Deutschland habe mit dem Zeitpunkt des Mindestlohnstarts mehr zufällig ein „perfektes Timing“gehabt: 2015 fiel in die Mitte eines fast zehnjährigen Konjunkturaufschwungs, der Mindestlohn konnte die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften nicht bremsen.
Gerade auch Niedriglohnbranchen wie die Gastronomie oder die Pflegedienste bauten weiter Personal auf. Negative Beschäftigungseffekte seien kaum nachweisbar gewesen, sagt Philipp vom Berge, der die Auswirkungen für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) untersucht. „Der stärkste Rückgang lässt sich bei den Minijobs beobachten, der jedoch zum Teil durch Umwandlungen in sozialversicherungspflichtige Teilzeitjobs aufgefangen wurde.“
Zugleich stiegen die Stundenlöhne merklich. Die Mindestlohnkommission stellte schon zum Start 2015 einen Lohnsprung um über sieben Prozent
gegenüber 2014 in den vom Mindestlohn stark betroffenen Branchen fest. „Am unteren Rand der Lohnverteilung waren nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns deutliche Lohnsteigerungen zu verzeichnen“, erinnert sich Jan Zilius, der Chef der Mindestlohnkommission. Profitiert hätten insbesondere Arbeitnehmer in Ostdeutschland, Minijobber, Geringqualifizierte und Frauen. Der Mindestlohn löste jedoch das Armutsproblem nicht – weil Betroffene nicht armutsgefährdet waren oder der Lohnanstieg nicht ausreichte, um das Haushaltseinkommen entscheidend zu erhöhen. „Eine Anforderung, die der gesetzliche Mindestlohn als arbeitsmarktpolitisches Instrument nicht erfüllen kann, ist der umfängliche Schutz vor Armut“, meint Zilius.
Nun mehren sich aber die Zeichen des Abschwungs, die echte Bewährungsprobe steht dem Mindestlohn erst bevor. Mancher warnt schon vor Rezession. Je nachhaltiger die Abschwungserwartungen, desto eher werden Unternehmen versucht sein, Arbeitskräfte durch Maschinen oder Computerprogramme zu ersetzen.
Viel hängt davon ab, ob das Verfahren der Mindestlohnfindung die härter werdenden politischen Auseinandersetzungen übersteht. Anders als in Frankreich oder Großbritannien legt in Deutschland eine unabhängige Kommission den jährlichen Anstieg des Mindestlohns fest, nicht die Regierung. Dabei ist die mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern austarierte Kommission gesetzlich an strenge Maßstäbe gebunden. So soll der Mindestlohn der Entwicklung der Tariflöhne folgen, Inflation und Konjunkturlage berücksichtigen. Im Ergebnis ist der Mindestlohn bisher nur maßvoll angehoben worden. Deutschland liegt mit aktuell 9,19 Euro pro Stunde im EU-Vergleich im Mittelfeld, obwohl es jahrelang Wachstumsmotor war.
Für 2020 hat die Kommission eine weitere Steigerung auf 9,35 Euro vorzeitig festgelegt, das ist im Abschwung für Alexander Spermann Arbeitsmarktexperte viele Firmen eine schmerzliche Kostensteigerung. Doch die Arbeitgeber preisen das Mindestlohnverfahren. „Positiv ist, dass der Mindestlohn der Entwicklung der Tariflöhne und damit einer festen Anpassungsdynamik folgt“, sagt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Gewerkschaften und Parteien links der Mitte sehen das anders. Sie wollen einen Mindestlohn von zwölf Euro oder mehr durchsetzen, einige sehen die Kommission als Hindernis.
Mancher Ökonom ist daher alarmiert. „Der Mindestlohn ist ein Instrument, mit dem sich die Spaltung zwischen Arm und Reich lindern lässt. Aber er kann auch gefährlich werden. Würde er im jetzt beginnenden Abschwung zu stark erhöht, würde die Arbeitslosigkeit in den unteren Lohngruppen stärker zunehmen, und die Spaltung würde größer als ohne den Mindestlohn“, warnt etwa Ulrich Kater, der Chefvolkswirt der Dekabank. „Erst in der konjunkturellen Schwächephase wird der Mindestlohn einer echten Prüfung ausgesetzt. Im Abschwung ist bei der Mindestlohnhöhe noch mehr Vorsicht geboten.“
Vorteilhafterweise liegen viele Dinge in Deutschland heute anders als in früheren Schwächephasen: Die Gesellschaft altert, Arbeitskräfte sind auch im Abschwung knapp, viele Unternehmen „horten“sogar Fachkräfte aus Angst, später keine mehr zu finden. Zudem ist die Konjunktur gespalten: Im Ausland hat die exportorientierte Industrie wachsende Probleme, doch im Inland machen Einzelhandel, Gastronomie, Touristik, Handwerk, Dienstleister und Bauwirtschaft weiter gute Geschäfte. Gerade in diesen Branchen arbeiten die meisten Menschen, für die der Mindestlohn eine maßgebende Größe ist.
Kommissionschef Zilius ist jedenfalls überzeugt, dass die Erfolgsgeschichte trotz schwächerer Konjunktur weitergeht. „Die in den ersten Jahren nach der Einführung beobachteten Wirkungen des gesetzlichen Mindestlohns setzen sich, soweit ich das überblicke, weiter fort, insbesondere ist weiterhin eine positive Entwicklung bei der Beschäftigung bis 2019 zu verzeichnen.“
„Unsere Warnungen waren überzogen“