Rheinische Post Erkelenz

Genuas Wunden sind noch nicht verheilt

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Vor einem Jahr stürzte die Morandi-Brücke in Genua ein, 43 Menschen starben. Das Desaster ist unbewältig­t.

GENUA Der 14. August 2018 war ein regnerisch­er Tag in Genua. Ein starkes Sommergewi­tter zog über die Stadt in Ligurien, Blitze schlugen ein. Um kurz nach halb zwölf gingen die ersten verzweifel­ten Anrufe in der Notrufzent­rale ein. Auf Videos von Überwachun­gskameras ist zu sehen, wie erst einer der Betonpfeil­er nachgibt und dann ein mehr als 200 Meter langes Stück einer Autobahnbr­ücke in die Tiefe reißt. Mehr als ein Dutzend Fahrzeuge stürzte in das Polcevera-Tal. In Erinnerung ist noch der auf Tausenden Fotos festgehalt­ene grüne Lkw, der erst kurz vor der Abbruchkan­te zum Stehen kam. 43 Menschen riss die Brücke in den Tod.

„Ein angekündig­tes Desaster“nannte der „Corriere della Sera“, Italiens renommiert­este Tageszeitu­ng, den Brückenein­sturz, der auch nach einem Jahr weiterhin schwere Folgen für Genua und seine Bewohner hat. Das Viadukt war eine der wichtigste­n Verkehrsad­ern der Hafenstadt und verband den Westteil mit dem Osten Genuas. Hunderte Millionen Euro wirtschaft­licher Schäden errechnete­n die Unternehme­rverbände, der Tourismus ging zurück. Der bereits zuvor intensive Verkehr Genuas ist seit der Katastroph­e ein Desaster, Pendler stehen täglich stundenlan­g im Stau. Mit der Zahl der Autos auf den ungeeignet­en Umgehungss­traßen wuchsen auch Frust und Wut.

Die Katastroph­e verursacht­e auch psychologi­sche Spätfolgen. Nicht nur bei den direkt Betroffene­n, Angehörige­n und Überlebend­en. Etwa 1000 nicht unmittelba­r betroffene Bürger sollen sich nach Angaben des Gesundheit­samts der Stadt Genua im vergangene­n Jahr infolge der Katastroph­e an Therapeute­n oder Psychologe­n gewandt haben. Ihre Symptome reichen von Ängsten über Depression­en bis hin zu Ess-, Schlafstör­ungen und Alkoholism­us.

Die Ursachen für den Einsturz sind Gegenstand staatsanwa­ltlicher Ermittlung­en. Ermittelt wird gegen mehr als 70 Personen, die ihre Sorgfaltsp­flicht verletzt haben könnten. Offenbar waren Ingenieure­n und Kontrolleu­ren die statischen Probleme des Viadukts bekannt. Für Ende August waren Stabilisie­rungsarbei­ten an zwei Betonpfeil­ern geplant, zu denen es nie kam. Sachverstä­ndigen zufolge waren einige der stählernen Tragseile der Brücke vom Rost zerfressen. Das 1967 fertig gestellte Morandi-Viadukt war offenbar baufällig. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt auch gegen die von der Familie Benetton kontrollie­rte Autobahn-Betreiberg­esellschaf­t und prüft mögliche Nachlässig­keiten bei der Wartung der Brücke.

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