Die Grenzen des Weltwirtschaftsgipfels
Nie waren die Risse in der G7-Runde größer. Beim Treffen führender Industrienationen in Biarritz werden US-Präsident Trump und der britische Premier Johnson Sonderwege gehen. Als G5 hat das Treffen keinen Sinn mehr.
Wer sich schon vor seinem Antrittsbesuch im Kanzleramt eine Abfuhr der sonst auf Ausgleich bedachten Hausherrin einhandeln möchte, muss es machen wie Großbritanniens neuer Premier Boris Johnson. Er will sein Land zum 31. Oktober aus der Europäischen Union herausführen – mit oder ohne „Deal“. Dafür soll die EU das mühselig mit seiner Vorgängerin Theresa May im vorigen Jahr beschlossene Abkommen wieder aufschnüren und die darin verankerte Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland streichen. Einen entsprechenden Brief schickte Johnson jüngst nach Brüssel. Der Konservative sieht die staatliche Souveränität Großbritanniens eingeschränkt, was auch den Frieden mit Irland tangiere. Manch einer mag da in Erinnerung an den blutigen Nordirland-Konflikt mit Tausenden Toten zusammenzucken. Johnson schreibt, anstelle dieses sogenannten Backstops, der eine harte Grenze mit Warenkontrollen verhindern soll, könne London andere Verpflichtungen eingehen. Welche, ließ er offen. Man fragt sich, ob das die gezielte Provokation eines zu Scherzen aufgelegten Politikers ist, der die Schuld für einen Chaos-Ausstieg der EU zuschieben will. Oder ob er naiv ist und glaubt, er werde keinen hohen Preis für den Brexit bezahlen.
Noch bevor sie ihn am Mittwochabend mit Pauken und Trompeten und all den anderen obligatorischen militärischen Ehren empfing, zog Angela Merkel in einer für sie eher untypischen Art – nämlich bereits vor dem bilateralen Gespräch und während einer Auslandsreise – ihre ganz eigene Grenze. „Wir werden natürlich über praktische Lösungen nachdenken.“Die EU sei dazu bereit, sagte sie am Rande eines Treffens mit Regierungsvertretern skandinavischer Staaten in Reykjavik. „Aber
dazu müssen wir das Austrittsabkommen nicht aufmachen.“
Im April hatte Merkel ihrem irischen Amtskollegen Leo Varadkar versichert: „Ich weiß, was es bedeutet, wenn Mauern fallen, wenn Grenzen verschwinden.“Denn sie kannte als DDR-Bürgerin auch das Leid, wenn Mauern entstehen und bestehen. Auch deshalb sind ihr Freiheitsrechte heilig. Und dazu zählen für sie offene Grenzen. In Deutschland. In der EU. In der Welt.
Das Problem: Je ungeregelter der Brexit sein wird, desto mehr wird die EU versuchen, ihren Binnenmarkt zu schützen – auch an der dann neuen EU-Außengrenze zu Nordirland. Wie das ohne Kontrollen gelingen soll, ist offen. Insofern lässt Merkel mit diesem Satz Interpretationsspielraum: Bei einer „praktischen Regelung“zur Einhaltung des Friedensabkommens mit Nordirland bei gleichzeitiger Definition der Binnenmarktgrenze „brauchen wir den Backstop nicht mehr“. Man darf gespannt sein auf Johnsons Ideen zu den „Verpflichtungen“. Ein neues Abkommen wird er aber nicht erreichen. Da ist sich Merkel mit ihrem Koalitionspartner SPD und der EU einig. Der französische Präsident Emmanuel Macron will auch keinen langen Aufschub des Brexits. Bleibt es bei Johnsons Selbstverpflichtung, tritt Großbritannien ausgerechnet zu Halloween, der kommerziell betriebenen Nacht des Grauens, aus der EU aus.
Dass nicht nur eine Horrornacht, sondern eine dunkle Zeit bevorsteht, lässt auch der G7-Gipfel der führenden Industrienationen USA, Japan, Kanada, Italien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland am Wochenende in Biarritz befürchten. Nie war der Riss durch die Gruppe der großen Sieben so groß wie seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump. Nur mit allergrößter Mühe sind bislang mit ihm gemeinsame Abschlussdokumente vereinbart worden. Die Streitpunkte waren vor allem der Klimaschutz und seine wirtschaftliche Abschottungspolitik. Inzwischen Angela Merkel Bundeskanzlerin geht Trump seiner Wege. Es schert ihn nicht, dass die G20-Gipfel am Ende 19:1 ausgehen. Alle sind für Klimaschutzvereinbarungen, nur die USA machen nicht mit. Das schreiben sie inzwischen auch so in die Papiere. Ist Trump wurscht.
Er freut sich auf Johnson, der so ähnlich tickt wie er. In Biarritz werden die beiden Populisten am Rande des Gipfels über bilaterale Handelsbeziehungen, über „Deals“sprechen. Trump liebt es, wenn er nur ein einzelnes Gegenüber hat und keine ganze Runde. Und wenn er etwas kaufen kann. So wie er gern Grönland kaufen würde und beleidigt ist, dass die dänische Regierung die zum dänischen Königreich gehörende autonome Arktisinsel nicht loswerden möchte. Kurzerhand sagte der Milliardär einen lang geplanten Besuch in Kopenhagen einfach ab. Um Deutschland macht er sowieso einen Bogen. Allerdings legt Merkel offensichtlich selbst keinen Wert auf seinen Besuch. Sonst hätte sie ihn zweieinhalb Jahre nach seinem Amtsantritt sicherlich schon mal ausdrücklich eingeladen.
So bröckelt der einst mächtige und wichtige Weltwirtschaftsgipfel. Wegen der Annexion der Krim und des Konflikts in der Ostukraine wurde Russland aus der Runde geworfen. Trump hätte Kremlchef Wladimir Putin gern wieder dabei. Die EU-Staaten knüpfen das allerdings an eine Umkehr Moskaus. Sie wissen jedoch, dass Putin die ukrainische Halbinsel nicht mehr hergeben wird. Die Rückkehr zu G8 ist damit versperrt. Angesichts des Brexits, des zu erwartenden Handelskonflikts mit Großbritannien sowie Trumps persönlichen Handelsstreits mit China und seiner Drohungen mit Strafzöllen gegen die deutsche Autowirtschaft könnte die Runde vielmehr auf fünf Staaten zusammenschrumpfen, die sich nur noch als Partner verstehen. Schon lange wird über den Sinn der teuren und aufwändigen Organisation der Gipfel gestritten. Sie sollten sich besser informell auf einer einsamen Insel treffen, heißt es oft. Vielleicht ja auf Grönland. Zu fünft aber hat der Weltwirtschaftsgipfel keinen Sinn mehr.
„Aber dazu müssen wir das Austrittsabkommen nicht aufmachen“