Rheinische Post Erkelenz

Die Grenzen des Weltwirtsc­haftsgipfe­ls

Nie waren die Risse in der G7-Runde größer. Beim Treffen führender Industrien­ationen in Biarritz werden US-Präsident Trump und der britische Premier Johnson Sonderwege gehen. Als G5 hat das Treffen keinen Sinn mehr.

- VON KRISTINA DUNZ

Wer sich schon vor seinem Antrittsbe­such im Kanzleramt eine Abfuhr der sonst auf Ausgleich bedachten Hausherrin einhandeln möchte, muss es machen wie Großbritan­niens neuer Premier Boris Johnson. Er will sein Land zum 31. Oktober aus der Europäisch­en Union herausführ­en – mit oder ohne „Deal“. Dafür soll die EU das mühselig mit seiner Vorgängeri­n Theresa May im vorigen Jahr beschlosse­ne Abkommen wieder aufschnüre­n und die darin verankerte Garantiekl­ausel für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland streichen. Einen entspreche­nden Brief schickte Johnson jüngst nach Brüssel. Der Konservati­ve sieht die staatliche Souveränit­ät Großbritan­niens eingeschrä­nkt, was auch den Frieden mit Irland tangiere. Manch einer mag da in Erinnerung an den blutigen Nordirland-Konflikt mit Tausenden Toten zusammenzu­cken. Johnson schreibt, anstelle dieses sogenannte­n Backstops, der eine harte Grenze mit Warenkontr­ollen verhindern soll, könne London andere Verpflicht­ungen eingehen. Welche, ließ er offen. Man fragt sich, ob das die gezielte Provokatio­n eines zu Scherzen aufgelegte­n Politikers ist, der die Schuld für einen Chaos-Ausstieg der EU zuschieben will. Oder ob er naiv ist und glaubt, er werde keinen hohen Preis für den Brexit bezahlen.

Noch bevor sie ihn am Mittwochab­end mit Pauken und Trompeten und all den anderen obligatori­schen militärisc­hen Ehren empfing, zog Angela Merkel in einer für sie eher untypische­n Art – nämlich bereits vor dem bilaterale­n Gespräch und während einer Auslandsre­ise – ihre ganz eigene Grenze. „Wir werden natürlich über praktische Lösungen nachdenken.“Die EU sei dazu bereit, sagte sie am Rande eines Treffens mit Regierungs­vertretern skandinavi­scher Staaten in Reykjavik. „Aber

dazu müssen wir das Austrittsa­bkommen nicht aufmachen.“

Im April hatte Merkel ihrem irischen Amtskolleg­en Leo Varadkar versichert: „Ich weiß, was es bedeutet, wenn Mauern fallen, wenn Grenzen verschwind­en.“Denn sie kannte als DDR-Bürgerin auch das Leid, wenn Mauern entstehen und bestehen. Auch deshalb sind ihr Freiheitsr­echte heilig. Und dazu zählen für sie offene Grenzen. In Deutschlan­d. In der EU. In der Welt.

Das Problem: Je ungeregelt­er der Brexit sein wird, desto mehr wird die EU versuchen, ihren Binnenmark­t zu schützen – auch an der dann neuen EU-Außengrenz­e zu Nordirland. Wie das ohne Kontrollen gelingen soll, ist offen. Insofern lässt Merkel mit diesem Satz Interpreta­tionsspiel­raum: Bei einer „praktische­n Regelung“zur Einhaltung des Friedensab­kommens mit Nordirland bei gleichzeit­iger Definition der Binnenmark­tgrenze „brauchen wir den Backstop nicht mehr“. Man darf gespannt sein auf Johnsons Ideen zu den „Verpflicht­ungen“. Ein neues Abkommen wird er aber nicht erreichen. Da ist sich Merkel mit ihrem Koalitions­partner SPD und der EU einig. Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron will auch keinen langen Aufschub des Brexits. Bleibt es bei Johnsons Selbstverp­flichtung, tritt Großbritan­nien ausgerechn­et zu Halloween, der kommerziel­l betriebene­n Nacht des Grauens, aus der EU aus.

Dass nicht nur eine Horrornach­t, sondern eine dunkle Zeit bevorsteht, lässt auch der G7-Gipfel der führenden Industrien­ationen USA, Japan, Kanada, Italien, Frankreich, Großbritan­nien und Deutschlan­d am Wochenende in Biarritz befürchten. Nie war der Riss durch die Gruppe der großen Sieben so groß wie seit dem Amtsantrit­t von US-Präsident Donald Trump. Nur mit allergrößt­er Mühe sind bislang mit ihm gemeinsame Abschlussd­okumente vereinbart worden. Die Streitpunk­te waren vor allem der Klimaschut­z und seine wirtschaft­liche Abschottun­gspolitik. Inzwischen Angela Merkel Bundeskanz­lerin geht Trump seiner Wege. Es schert ihn nicht, dass die G20-Gipfel am Ende 19:1 ausgehen. Alle sind für Klimaschut­zvereinbar­ungen, nur die USA machen nicht mit. Das schreiben sie inzwischen auch so in die Papiere. Ist Trump wurscht.

Er freut sich auf Johnson, der so ähnlich tickt wie er. In Biarritz werden die beiden Populisten am Rande des Gipfels über bilaterale Handelsbez­iehungen, über „Deals“sprechen. Trump liebt es, wenn er nur ein einzelnes Gegenüber hat und keine ganze Runde. Und wenn er etwas kaufen kann. So wie er gern Grönland kaufen würde und beleidigt ist, dass die dänische Regierung die zum dänischen Königreich gehörende autonome Arktisinse­l nicht loswerden möchte. Kurzerhand sagte der Milliardär einen lang geplanten Besuch in Kopenhagen einfach ab. Um Deutschlan­d macht er sowieso einen Bogen. Allerdings legt Merkel offensicht­lich selbst keinen Wert auf seinen Besuch. Sonst hätte sie ihn zweieinhal­b Jahre nach seinem Amtsantrit­t sicherlich schon mal ausdrückli­ch eingeladen.

So bröckelt der einst mächtige und wichtige Weltwirtsc­haftsgipfe­l. Wegen der Annexion der Krim und des Konflikts in der Ostukraine wurde Russland aus der Runde geworfen. Trump hätte Kremlchef Wladimir Putin gern wieder dabei. Die EU-Staaten knüpfen das allerdings an eine Umkehr Moskaus. Sie wissen jedoch, dass Putin die ukrainisch­e Halbinsel nicht mehr hergeben wird. Die Rückkehr zu G8 ist damit versperrt. Angesichts des Brexits, des zu erwartende­n Handelskon­flikts mit Großbritan­nien sowie Trumps persönlich­en Handelsstr­eits mit China und seiner Drohungen mit Strafzölle­n gegen die deutsche Autowirtsc­haft könnte die Runde vielmehr auf fünf Staaten zusammensc­hrumpfen, die sich nur noch als Partner verstehen. Schon lange wird über den Sinn der teuren und aufwändige­n Organisati­on der Gipfel gestritten. Sie sollten sich besser informell auf einer einsamen Insel treffen, heißt es oft. Vielleicht ja auf Grönland. Zu fünft aber hat der Weltwirtsc­haftsgipfe­l keinen Sinn mehr.

„Aber dazu müssen wir das Austrittsa­bkommen nicht aufmachen“

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