Im Mai 2013 wird die 24-jährige Lorén Uceda Camacho von ihrem Ex-Freund erstochen, der später wegen Totschlags verurteilt wird. Ihre Familie kann das bis heute kaum fassen, für sie war es Mord. Ein Besuch.
SIEGEN Im Märchen über die kleinen Leute von Swabedoo tauschen diese warme, weiche Pelze aus, immer, wenn sie sich begegnen. Das sorgt im ganzen Dorf für ein wohlig-warmes Glücksgefühl. Als Lorén, geboren am 4. September 1988, noch ein kleines Mädchen war, war das Märchen ihre Lieblingsgeschichte. Ihre Eltern nannten sie deshalb auch noch als junge Frau die Prinzessin von Swabedoo. Anders als das Märchen endet Loréns Geschichte jedoch grausam: Die 24-Jährige wird im Mai 2013 von ihrem Ex-Freund erstochen.
Das Haus der Familie Uceda Camacho liegt in einem Siegener Wohngebiet. Nach hinten raus hat man einen schönen Blick auf das hügelige Siegerland. Im Erdgeschoss wohnen die Eltern, Charlotte (58) und José Angel (60), der 1985 aus Spanien nach Deutschland kam. Im Obergeschoss lebt Tochter Jana (33). Die Wohnung im Souterrain mit Fenstern zur Straße und Seite und einem Eingang, der direkt unterhalb der Haustür liegt, ist abgeschlossen. Seit Jahren hat sie niemand mehr betreten. Die zwei Zimmer sind bis auf ein Regal und einige Spielsachen leer. Hier hat Lorén gelebt, und hier wurde sie auch getötet.
Wenn die Eltern von der Nacht auf den 10. Mai 2013 erzählen, merkt man ihnen an, dass sie das schon sehr oft gemacht haben. Sie reden schnell, fast routiniert. Um kurz vor vier Uhr, sagt Charlotte Uceda Camacho, sei sie aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Sie riecht verbranntes Plastik und Rauch. Zuerst vermutet sie einen Kabelbrand, findet aber keine Brandquelle und ruft schließlich die Feuerwehr. Als diese eintrifft, öffnet ihr Mann die Tür zur Kellerwohnung. Schwarzer Rauch quillt ihm entgegen, das Schlafzimmer der Tochter steht in Flammen. Lorén ist tot, gestorben an sieben Stichverletzungen in Brust und Hals. Sie wurde 24 Jahre und acht Monate alt. Immer wieder sagen die Eltern das, vielleicht, weil die Zeit mit ihrer Tochter so kurz war, dass jeder Monat zählt.
Temperamentvoll sei Lorén gewesen, schlagfertig und liebevoll, sagt die Mutter. Sie hat ein Buch geschrieben, über ihre Tochter, ihr Leben und ihren Tod, im Januar ist es erschienen. Anekdoten aus Loréns Kindheit und Jugend vermischen sich mit direkter Ansprache: „Als du erst fünf warst, konntest du bereits ungeheuerlich schnell laufen, weißt du das noch? Niemand konnte dich kriegen. Diese Schnelligkeit hattest du definitiv von deinem Papa geerbt.“Als Lorén und ihre Schwester Jana klein sind, haben sie Kaninchen, Loréns heißt „Toffifee“, Janas „Baldrian“. Gemeinsam mit einer Freundin gründen sie die „Kaninchen-Gang“. Als sie in die Schule kommt, stellt sich heraus, dass sie eine Brille braucht. Sie hasst Fahrradfahren. Sie ist eine gute Schülerin, Mathe nicht unbedingt ihr Lieblingsfach.
2006 wechselt Lorén auf ein Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung, macht den Führerschein. Bis heute steht ihr kleiner Opel Corsa in der Garage der Familie, manchmal fährt der Vater damit – Loréns Real-Madrid-Schal und ihre Sonnenbrille liegen immer noch im Handschuhfach. Auf der Berufsschule lernt sie den späteren Täter kennen, im August 2007 kommen sie erstmals zusammen. Sie macht eine Ausbildung zur Automobilkauffrau bei einem Mercedes-Autohaus, knapp 20 Minuten entfernt von ihrem Zuhause. Danach bekommt sie dort eine Festanstellung. „Sie war voller Energie, zuvorkommend, hilfsbereit und versprühte gute Laune“schreibt die Geschäftsführung nach dem Tod Loréns in einer Trauerkarte. Sparsam sei sie gewesen, sagen die Eltern, und aufmerksam, habe nie einen Geburtstag vergessen. Immer wieder fließen Tränen, wenn sie von Lorén erzählen. Auf dem Esstisch liegen Taschentücher – zur Sicherheit.
An diesem Tisch saß auch häufig der Mann, der ihre Tochter getötet hat. Zurückhaltend sei er gewesen, sagt der Vater, habe nie viel von sich erzählt. Die beiden führten etwa fünf Jahre lang eine Beziehung, trennten sich aber immer wieder. In der Nacht auf den 10. Mai 2013 kam der damals 23-Jährige zum Haus der Familie. Er habe Gewissheit haben wollen, ob es eine Zukunft mit Lorén gebe – so steht es in der Urteilsschrift. Er hatte einen Rucksack mit festen Handschuhen, Klebeband und zwei Deko-Schwertern dabei. Durch das Fenster gelangte er in das Zimmer der 24-Jährigen. Sie habe überrascht gewirkt, aber mit ihm gesprochen, sagte er später aus. Im Verlauf der Nacht sei es erst zum Sex gekommen, dann zum Streit.
Was danach passierte, schätzte das Siegener Landgericht in seinem Urteil als spontane Affekthandlung des Täters ein, der vorher noch eine Zukunft mit Lorén gesehen habe, nach dem Streit aber nicht mehr. Der 23-Jährige würgte die junge Frau, schlug sie mit der Faust und griff dann nach einem der Schwerter in seinem Rucksack. Mit der 40 Zentimeter langen Klinge stach er Lorén sieben Mal in Brust und Hals, zündete die Wohnung an und flüchtete.
Am nächsten Morgen wurde er von der Polizei befragt und gestand. Knapp sechs Monate später wurde er vor dem Siegener Landgericht wegen Totschlags und schwerer Brandstiftung zu elfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Es sei ihm nicht nachzuweisen, dass er die Schwerter in Tötungsabsicht mitführte, heißt es in der Urteilsschrift, Mordmerkmale wie Heimtücke oder Grausamkeit seien nicht erfüllt.
Die Eltern sind hingegen überzeugt: Er kam, um Lorén zu töten. In ihrem Buch beschreibt die Mutter auch, wie sie den Prozess erlebt hat: als Demütigung, die bis heute nachwirkt. „Es ist für uns empörend, dass das Leben unserer Tochter nicht mehr wert ist“, sagt die 58-Jährige. Ihr Rechtsbeistand, Rechtsanwalt Ulrich Schmidt, sprach im Prozess von einem „glasklaren Mord“. In seiner ersten Vernehmung hatte der Täter davon gesprochen, dass er alles eingepackt habe, um sich von Lorén zu befreien. So steht es in der Urteilsschrift. Später behauptete er dann, es sei um befreien im Sinne von Klarheit schaffen gegangen. Unglaubwürdig, befand die Staatsanwaltschaft und forderte zwei Jahre mehr Haft. Staatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss sagte in seinem Plädoyer, dass es einen „Konflikt zwischen innerer Überzeugung und rechtlicher Nachweisbarkeit“gebe. Er glaube, dass sich der junge Mann Gedanken gemacht habe, Lorén zu töten, und deshalb Werkzeug dabei hatte – das sei aber nicht mit eindeutiger Sicherheit zu sagen. Also bleibe ein Fall von Totschlag, „aber keinesfalls ein minderschwerer Fall“.
Bis heute fällt es der Familie schwer, damit zurechtzukommen, dass der Täter nicht wegen Mordes verurteilt wurde – und damit die Chance hat, schon in wenigen Jahren wieder auf freien Fuß zu kommen. Auf Anfrage erklärt die Staatsanwaltschaft Siegen, dass er Anfang 2021 zwei Drittel seiner Strafe verbüßt haben wird. Dann werde geprüft, „ob eine Entlassung unter Bewährungsauflagen vertreten werden kann“.
Die Familie, die als Nebenklägerin am Prozess teilgenommen hatte, versuchte, Revision gegen das Urteil einzulegen, doch der Antrag wurde zurückgewiesen. Aber sie gaben nicht auf, verklagten den Täter auf Schmerzensgeld. Zur Verhandlung im November 2016 erschien er nicht. Die Familie bekam Recht – und 140.000 Euro zugesprochen, jeweils 40.000 Euro für die Eltern, 20.000 Euro für Schwester Jana, 40.000 Euro für den materiellen Schaden, dazu Zinsen und Gerichtskosten. „Nun haben wir alles für dich getan, Lorén. Das, was wir konnten“, das habe sie nach dem Urteil gedacht, schreibt Charlotte Uceda Camacho in ihrem Buch.
Dass der Täter das Geld tatsächlich bezahlt, ist unwahrscheinlich. Aber die rechtliche Aufarbeitung des Falls ist damit beendet. Für die Eltern bleiben viele Fragen, zum Beispiel danach, ob Lorén vor der Tat bei der Polizei Hilfe gesucht hat. Ein Hilfetelefon habe sie kontaktiert, sagt die Mutter, davon habe sie aber erst im Nachhinein erfahren. „Junge Frauen müssten besser geschützt werden“, sagt sie. Jeden dritten Tag wird in Deutschland dem Bundeskriminalamt zufolge eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.
Die Weltgesundheitsorganisation hat für die Tötung von Frauen den Begriff Femizid geprägt. Aktivistinnen fordern seit Jahren, diesen auch in Deutschland zu verwenden – bislang ohne nennenswerten Erfolg. Immerhin: Im November 2018 gab Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) bekannt, angesichts der „für ein modernes Land wie Deutschland unvorstellbaren Größenordnung“eine Kampagne gegen Gewalt an Frauen zu starten, unter anderem mit offensiver Werbung für eine Beratungshotline. Denn: Nur 20 Prozent der Frauen, die Gewalt erfahren, suchen sich Hilfe.
Auch in Loréns Fall gab es Vorzeichen. Es sei immer wieder mal vorgekommen, dass der junge Mann nachts um das Haus geschlichen sei, erzählt der Vater. Lorén habe dann manchmal angerufen, einmal habe er den späteren Täter daraufhin nachts gebeten, die Familie in Ruhe zu lassen. „Er war sehr eifersüchtig und konnte nicht akzeptieren, dass es vorbei war,“sagt die Mutter und schüttelt den Kopf. „Zugetraut hätten wir ihm das aber nie.“
Ihr Blick schweift zu einem Bild von Lorén, das im Wohnzimmerregal steht. Die Tochter ist im Haus der Eltern bis heute überall präsent: Es gibt Fotos von ihr, in der Küche steht ihr Sparschwein, an der Tür zum Arbeitszimmer hängt ein von ihr gemaltes Bild. Wegziehen wollen die Eltern nicht, auch wenn sie jeden Tag dem Ort nahe sind, an dem Lorén starb. Das hat pragmatische Gründe – „wo sollen wir hin, und wer kauft so ein Haus?“, fragt Charlotte Uceda Camacho –, aber auch emotionale. Hier habe Lorén schließlich auch gelebt, „hier ist ihr Geist“, sagt ihr Mann.
Inzwischen ist so etwas wie Alltag eingekehrt, beide Eltern arbeiten wieder, „wir funktionieren“, sagen sie. Manche Dinge seien aber schlicht nicht mehr möglich. Nudeln essen zum Beispiel, weil Lorén die so gern mochte, oder Weihnachten und Geburtstage feiern. „Früher war es hier lustig“, sagen sie, „heute ist es ernst.“Freude aus tiefstem Herzen zu empfinden, das sei kaum noch möglich. „Wir geben uns Mühe, vor allem für unsere Tochter Jana“, sagt Charlotte Uceda Camacho. In diesem Jahr erwarten Jana und ihr Ehemann das erste Kind. „Aber wir sind einfach nicht mehr dieselben.“
Auf einem nahen Friedhof im Stadtteil Geisweid haben sie Lorén begraben. In den glatten Grabstein ist ein kleines Foto eingearbeitet. Der Vater ist immer noch fast jeden Tag da, vor allem im Sommer. Er kümmert sich um die Pflanzen, fährt aber auch manchmal hin, um einfach nur da zu sein. Zu gehen und die Tochter zurückzulassen, fällt ihm auch nach all den Jahren schwer, sagt er.
„Wir nannten dich die Prinzessin von Swabedoo“, schreibt Charlotte Uceda Camacho in ihrem Buch, „und das wirst du immer bleiben.“
Loréns Wohnung im Souterrain hat seit Jahren niemand betreten. Hier hat sie gelebt, hier ist sie auch gestorben
Ihr Auto steht noch in der Garage, manchmal fährt der Vater damit. Im Handschuhfach liegt ihre Sonnenbrille