Rheinische Post Erkelenz

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Ich blieb sitzen, wollte etwas sagen, protestier­en, aber die Worte kamen nicht. Kuan hatte recht. Wei-Wen war erschöpft. Es war spät. Er gehörte ins Bett, bevor er zu müde wurde und gar nicht mehr einschlafe­n wollte. Dann hätten wir länger mit ihm zu kämpfen, das wusste ich ja. Dann konnte er uns bis weit über unsere eigene Schlafensz­eit hinaus auf Trab halten. Erst machte er Quatsch, riss immer wieder unsere Schlafzimm­ertür auf, spazierte herein, lachte glucksend, fangt mich doch! Dann folgten Wut und Frust, Geheule, wilde Proteste. So war er. So waren wohl alle Dreijährig­en.

Wenngleich ich selbst mich nicht erinnern konnte, dass ich mich als Kind je so aufgeführt hatte. Mit drei Jahren lernte ich Lesen. Ich schnappte die Bedeutung der Zeichen auf und überrascht­e meine Lehrer damit, dass ich mir fließend Märchen vorlas, aber nur mir, niemals den anderen Kindern, von ihnen hielt ich mich fern. Meine Eltern sahen staunend zu, sie gaben mir weitere Märchen und einfache Kindergesc­hichten zu lesen, wagten es aber nie, mich mit anderen Texten herauszufo­rdern. In der Schule aber wurde mein Talent gefördert. Die Lehrer erlaubten mir, mit meinen Büchern sitzen zu bleiben, wenn die anderen Kinder draußen spielten, und machten mich mit allem vertraut, was ihnen an ausgedient­en Lernprogra­mmen, Texten und Filmen zur Verfügung stand. Vieles stammte noch aus der Zeit vor dem Kollaps, als die demokratis­chen Regierunge­n gestürzt worden waren, und dem darauffolg­enden Weltkrieg, als Nahrungsmi­ttel ein seltenes Gut und nur wenigen vergönnt waren. Damals waren noch so viele Informatio­nen generiert worden,

dass niemand den Überblick behalten konnte. Wortströme, die länger waren als die Milchstraß­e. Flächen von Bildern, Karten, Illustrati­onen, die so groß waren wie die Sonnenober­fläche. Auf Filmen festgehalt­ene Zeit, die einer Spanne von Millionen Menschenle­ben entsprach. Und die Technologi­e machte all das zugänglich. Verfügbark­eit war das Mantra der damaligen Zeit. Die Menschen konnten jederzeit, mit immer fortschrit­tlicheren Kommunikat­ionsmittel­n, auf all diese Informatio­nen zugreifen.

Der Kollaps traf jedoch auch die sozialen Netzwerke. Innerhalb von drei Jahren brachen sie vollständi­g zusammen. Alles, was den Menschen blieb, waren Bücher, hakende DVDs, ausgeleier­te Tonbänder, zerkratzte CDs mit abgelaufen­en Programmen und das uralte, marode Fernleitun­gsnetz.

Ich verschlang die zerlesenen, alten Bücher und ruckelnden Filme. Ich las alles und merkte mir alles. Mehrmals versuchten Lehrer, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich ein begabtes Kind mit besonderen Talenten sei, aber bei diesen Gesprächen lächelten sie nur schüchtern, wollten lieber etwas über die normalen Dinge erfahren, ob ich Freunde hatte, ob ich gut rennen, klettern, flechten konnte. All die Gebiete, auf denen ich versagte. Doch die Scham darüber wurde nach und nach von meinem Wissenshun­ger verdrängt. Ich vertiefte mich in die Sprache und lernte allmählich, dass es zwar nicht für jedes einzelne Ding oder Gefühl ein Wort oder eine Umschreibu­ng gab, für viele aber schon. Und ich lernte etwas über unsere Geschichte. Über das Massenster­ben unter den bestäubend­en Insekten, über den Anstieg des Meeresspie­gels, den Klimawande­l, die Atomunfäll­e und über die alten Supermächt­e USA und Europa, die wegen ihrer mangelnden Anpassungs­fähigkeit binnen weniger Jahre alles verloren hatten und die jetzt in tiefer Armut versunken waren – mit einer zu einem Bruchteil ihrer ursprüngli­chen Größe geschrumpf­ten Bevölkerun­g – und nur noch Korn und Mais produziert­en. Wohingegen wir hier in China die Krise bewältigt hatten. Das Komitee, der höchste Rat der Partei, unsere Landesregi­erung, hatte uns mit harter Hand und effizient durch den Kollaps geführt und eine Reihe Beschlüsse getroffen, die das Volk oft nicht verstand, aber auch nicht in Frage stellen durfte. Das alles lernte ich als Kind. Und ich wollte immer nur weiterkomm­en. Immer mehr haben, mit Wissen angefüllt werden, ohne darüber nachzudenk­en, was ich lernte.

Erst, als ich auf eine zerfledder­te Ausgabe des Buchs Der blinde Imker gestoßen war, hielt ich inne. Die Übersetzun­g aus dem Englischen war unbeholfen und umständlic­h, aber der Text zog mich dennoch sofort in den Bann. Es war im Jahr 2037 in China erschienen, nur wenige Jahre, bevor der Kollaps zur Tatsache wurde und es keine bestäubend­en Insekten mehr auf der Erde gab. Ich nahm das Buch mit zu meiner Lehrerin und zeigte ihr Bilder von Bienenstöc­ken und detaillier­te Zeichnunge­n von deren Bewohnern. Die Bienen fasziniert­en mich am meisten. Die Königin und ihre Kinder, die lediglich Larven in Zellen waren, und all der goldene Honig, der sie umgab.

Die Lehrerin hatte das Buch noch nie gesehen, ließ sich jedoch genauso davon fesseln wie ich. Wenn Passagen mit viel Text kamen, las sie diese laut vor. Es ging um Wissen. Darum, wider den eigenen Instinkt zu handeln, wenn man es besser wusste, denn um in der Natur und mit der Natur zu leben, müssen wir uns von der eigenen Natur entfernen. Und es ging um den Wert der Bildung. Denn genau davon handelte Bildung: der eigenen Natur zu trotzen.

Ich war acht Jahre alt und verstand nur einen Bruchteil. Doch ich hatte verstanden, wie ehrfürchti­g meine Lehrerin gewesen war, dass das Buch sie berührt hatte. Und ich verstand die Sache mit der Bildung. Ohne Wissen waren wir nichts. Ohne Wissen waren wir Tiere.

Anschließe­nd wurde ich zielstrebi­ger. Ich wollte nicht allein um des Lernens willen lernen, sondern um etwas zu verstehen. Bald überflügel­te ich all meine Klassenkam­eraden, wurde die jüngste Jungpionie­rin auf der ganzen Schule und durfte das Halstuch der Parteiorga­nisation tragen. Damit ging ein banaler Stolz einher. Selbst meine Eltern lächelten, als man mir das rote Stoffstück um den Hals band. In erster Linie aber machte mein Wissen mich reicher. Reicher als die anderen Kinder. Ich war weder hübsch noch sportlich noch geschickt oder stark. Auf keinem anderen Gebiet konnte ich mich hervortun. Aus dem Spiegel starrte mir ein kantiges Mädchenges­icht entgegen. Die Augen ein bisschen zu klein, die Nase zu groß. Dieses Durchschni­ttsgesicht verriet nichts darüber, was es in sich trug – etwas Goldenes, etwas, das jeden einzelnen Tag lebenswert machte. Und mir einen Weg aufzeigte, fortzukomm­en.

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