Warum der Ton immer zählt
Es herrscht derzeit eine bemerkenswerte Begeisterung für Kerne. Der Kern einer Aussage, der Kern einer Idee, der Kern des Gemeinten und der Kern des Gedachten. Alle sprechen plötzlich von diesem ominösen Kern, der offenbar ein – um im Bild zu bleiben – leicht schimmeliges Fruchtfleisch legitimieren kann. Auch als Politiker kann man unfreundlich und kränkend reden, solange die in Häme und Überheblichkeit gepackte Verlautbarung einen (vermeintlich) wahren Kern hat. In Wahrheit ist der Ton nie wegzudenken. Meist verrät er sogar viel über die wahren Motive des Sprechers.
Exemplarisch könnte man hier die jüngsten Aussagen zweier Herren heranziehen: Carsten Linnemann und Clemens Tönnies sprachen, und auf dem Parkett der sogenannten sozialen Netzwerke reagierte man mit dem mittlerweile bekannten Ping-Pong aus Empörung und Gegenempörung. Es gab also die, die sich über die Aussagen ärgerten, und die, die sich darüber ärgerten, dass sich andere über die Aussagen ärgerten. Letztere sind es auch, die sich in der Debatte auf die Essenz der Aussage berufen. Im Kern sagen sie: Der Kern heiligt die Mittel.
Als Carsten Linnemann im Interview mit unserer Redaktion sagte, „Ein Kind, das kein Deutsch spricht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, war die Empörung groß. Eine stark zugespitzte Berichterstattung fachte die Debatte ohne sein Zutun weiter an. Linnemann-Verteidiger stürzten sich auf den Kern seiner Aussagen: Er habe doch eine richtige Debatte angestoßen, und im Kern gehe es um die Sprachkompetenzen der Schüler an Deutschlands Schulen. Ja, mag sein, doch so hat er das eben nicht gesagt. Die meisten empörten sich nicht darüber, dass über Grundschulen diskutiert wurde, sondern über Linnemanns Ton. Und dass der nicht in Ordnung ist, zeigt ein einfacher Trick. Legen wir Linnemanns Worte in den Mund eines Grundschülers, dann sagt ein Sechsjähriger einem anderen
Sechsjährigen, der schlecht Deutsch spricht: „Du hast hier an meiner Schule nichts zu suchen.“
Es geht in der Kommunikation nie nur darum, was ein Mensch sagt, und noch weniger nur darum, was er im Kern gemeint haben mag. Es geht immer auch darum, wie ein Mensch etwas sagt. Das ist eine Binse, die, davon darf man ausgehen, auch Carsten Linnemann kennt. Also muss man ihm auch unterstellen dürfen, dass es eine bewusste Entscheidung ist, zu sagen, diese oder jene Kinder hätten hier oder da nichts zu suchen, anstatt zu sagen: „Zu viele Kinder in der Grundschule können kein Deutsch. Das erschwert ihre Integration und überfordert die Lehrer. Dafür brauchen wir Lösungen, mein Ansatz wäre es, verpflichtende Sprachtests einzuführen und im Zweifel die Einschulung zu verschieben.“Das kann man immer noch gut oder schlecht finden, doch der Ton ist einer, der nicht auf die Provokation, sondern auf eine Lösung aus ist.
Wenige Tage zuvor hielt es Schalke-Aufsichtsratschef Clemens Tönnies für angebracht zu sagen: „Dann würden die (in Afrika) aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren.“Auch hier war die Empörung groß. Einige langjährige Schalke-Mitglieder traten aus, zahlreiche Fans, Fußballer und Personen des öffentlichen Lebens mit und ohne Wurzeln in Afrika forderten Tönnies‘ Rücktritt.
Natürlich gab es auch hier eine recht prominent besetzte Gegenbewegung, deren bekanntester Wortführer der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki war. Im Kern habe Tönnies doch etwas Richtiges, nämlich ein „gravierendes Problem der Klimadiskussion“angesprochen. „Ich verteidige nicht den Ton der ziemlich drastischen Aussage von Clemens Tönnies“, so Kubicki. Tja, der Ton ist aber ein Problem – und ein Indikator für die Weltsicht des Sprechers. Wenn ein Großunternehmer und Fußballfunktionär es nicht schafft, über den Klimawandel oder über die Entwicklung der Weltbevölkerung zu reden, ohne dabei klischeehaft das Sexualverhalten der Menschen in Afrika zu thematisieren,