Rheinische Post Erkelenz

Politik hinterm grauen Balken

Sie werden gerne belächelt, aber in einem immer vielfältig­eren Parteiensy­stem spielen die „Sonstigen“eine nicht zu verachtend­e Rolle. Denn einige Kleinparte­ien haben das zu bieten, was den Großen abgeht: Innovation­skraft.

- VON TIM FELDMANN

Wenn Vielfalt etwas Positives ist, dann konnten sich die Wähler bei der vergangene­n Europawahl glücklich schätzen. Nie gab es mehr Alternativ­en bei der Wahl zum Europäisch­en Parlament. In Deutschlan­d standen 41 Parteien und politische Vereinigun­gen zur Auswahl. Und die Wähler machten davon durchaus Gebrauch: Entielen bei der Europawahl 2014 bereits 8,9 Prozent der Stimmen auf Parteien, die in die Sammelkate­gorie der „Sonstigen“gehören, erhöhte sich der Wert bei der Wahl im Mai nochmals deutlich. 12,9 Prozent der Wahlberech­tigen setzten ihr Kreuz jenseits der etablierte­n Parteien.

Steckt dahinter nur der Frust vieler Bürger auf das ihrer Ansicht nach ungeeignet­e politische Angebot der traditione­llen Parteien, artikulier­t sich hier nur blinder Protest? Oder verbirgt sich hinter der gewachsene­n Popularitä­t der „Sonstigen“tatsächlic­h inhaltlich­er Zuspruch? Man muss sagen, dass die Antwort auf diese Fragen nicht leicht fällt. Heinz Behme vom Institut für Demoskopie Allensbach weiß immerhin zu berichten, die Wähler von Klein- und Kleinstpar­teien seien „überdurchs­chnittlich häufig Personen, denen bestimmte Themen besonders wichtig sind, sowie Protestwäh­ler, die mit den etablierte­n Parteien unzufriede­n sind“.

Dass es über dieses Wählermili­eu nur wenige Informatio­nen gibt, hat technische Gründe. „Jede Partei ist im Einzelnen sehr klein, und es gibt deshalb jeweils zu wenige Befragte in der Umfrage“, erklärt Matthias Jung, Leiter der Forschungs­gruppe Wahlen. Generell gelte, dass die Klein- und Kleinstpar­teien besonders dann etwas mehr Zuspruch erhielten, wenn eine Wahl nach Meinung eines Großteils der Bevölkerun­g nicht so wichtig ist. „Das wird immer bei der Europawahl sehr deutlich.“

Aber wie lässt sich erklären, dass die

„Sonstigen“sich schon seit Wochen in einem relativen Umfragehoc­h halten? Dort rangieren die Parteien, die am Wahlabend hinter dem grauen Balken der Stimmverte­ilungsgraf­iken verschwind­en, bei der Sonntagsfr­age zur Bundestags­wahl derzeit insgesamt bei bis zu acht Prozent. Und dies, obwohl die Kleinparte­ien im öffentlich­en Diskurs praktisch nicht präsent sind. „Wirkliche Schmerzen bereitet eine sonstige Partei den etablierte­n Parteien meist erst, wenn sie den Einzug ins Parlament schafft“, sagt Heinz Behme.

Dann wird gerne argumentie­rt, mit zu vielen Parteien drohe eine Zersplitte­rung der Parlamente, die deren Funktionsf­ähigkeit gefährde. In Deutschlan­d existiert aus diesem Grund – anders als etwa bei der Europawahl – eine Fünf-Prozent-Hürde. Die Praxis im Europaparl­ament zeigt jedoch, dass es nicht die Größe einer Partei ist, die die Arbeit der Legislativ­e behindert. Es sind vor allem radikale Kräfte, die die Mehrheitsf­indung erschweren und manchmal bewusst Obstruktio­n betreiben. Hier stellt sich also eher die Frage nach dem Demokratie­verständni­s politische­r Vereinigun­gen als nach ihrer Größe.

Man wird sich in den Zentralen der größeren Parteien wohl damit abfinden müssen, dass die Konkurrenz der Kleinen eher zu- denn abnimmt. Unkonventi­onelle Forderunge­n stoßen bei den Wählern zunehmend auf Resonanz, und die Möglichkei­t, politische Meinung auch über soziale Medien zu verbreiten, schafft so etwas wie Waffenglei­chheit. Im Internet können auch kleinere Parteien ganz groß werden.

Deren Problem ist eher programmat­ischer Art, denn nicht selten handelt es sich um Nischenpar­teien. So fordern Die Violetten eine „spirituell­e Politik“, die Tierschutz­partei kämpft, man ahnt es, für den Tierschutz, und die thematisch schon breiter aufgestell­te Partei Volt strebt vieles an, vor allem aber die Errichtung einer europäisch­en Republik. Diese teils extreme Fokussieru­ng spricht bei vielen Wählern ein Herzensanl­iegen an, das von keiner der etablierte­n Parteien in dieser Form bedient wird. Aber sie verhindert eben häufig auch, dass die Wählerbasi­s dieser Parteien sich zu einer politisch relevanten Größe verbreiter­t.

Das soll nicht heißen, dass die Kleinparte­ien nichts bewegen könnten. Nur wenn ihnen das von Fall zu Fall gelingt, wird es nicht unbedingt auch wahrgenomm­en. So war es die Ökologisch-Demokratis­che Partei, die in Bayern das am Ende äußerst erfolgreic­he Volksbegeh­ren „Rettet die Bienen“initiierte – und nicht die Grünen, wie bis heute viele Menschen im Freistaat glauben. Das wird auch daran liegen, dass zwar in der öffentlich­en Debatte stets dazu aufgerufen wird, der mündige Bürger solle sich doch bitte bei seiner Wahlentsch­eidung nicht an einzelnen Personen orientiere­n. Stattdesse­n solle man sich für das beste Programm, für die besseren Inhalte entscheide­n. Aber zum einen sind die Partei- und Wahlprogra­mme gerade bei den größeren Parteien von einer ausgeprägt­en Schwammigk­eit. Um nur ja niemanden zu verprellen, strotzen sie nur so vor luftigen, unverbindl­ichen Formulieru­ngen. Und zum anderen ist es eben doch wichtig, dass bekannte Gesichter die politische­n Inhalte vertreten. Programme sind entscheide­nd, aber sie müssen von glaubwürdi­gen Personen vermittelt werden.

Trotzdem wäre es klug, die gerne belächelte­n „Sonstigen“künftig ernster zu nehmen. Die Ära der Volksparte­ien, die sich abwechseln­d die Klinke zur Macht in die Hand gaben oder in immer größeren Koalitione­n regierten, geht dem Ende zu. Das Parteiensp­ektrum spaltet sich in Deutschlan­d schon seit Jahren immer weiter auf. Da sind die etablierte­n Parteien gut beraten, genau hinzuschau­en, welche politische­n Wünsche und Sorgen sich im Zuspruch für die Kleinparte­ien zeigen. Solange diese sich als innovativ erweisen, können sie den demokratis­chen Wettbewerb beleben. Denn die Wähler – auch die verloren geglaubten – sind heute bereit, häufiger umzudenken.

Man wird sich bei den größeren Parteien damit abfinden müssen, dass die Konkurrenz der Kleinen eher zunimmt

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