Rheinische Post Erkelenz

Bis der Tod sie alle holt

Andreas Brendel kennt jede Art, wie ein Mensch töten kann. Der Dortmunder Staatsanwa­lt ist einer der Letzten, der Alte und Kranke vor Gericht stellt, weil sie in Hitlers Reich gemordet haben. Er sagt: Wir sind es jedem Opfer schuldig.

- VON ALEXANDER TRIESCH

DORTMUND Andreas Brendel will Gerechtigk­eit für 642 Tote. Aber er kommt zu spät. Vor einigen Jahren beschließt er, nach Oradour-sur-Glane zu fahren. Ein Dorf im Südwesten Frankreich­s, 2300 Einwohner, bis zur nächsten Stadt sind es nur ein paar Kilometer. Wer hierher kommt, tut das wegen der malerische­n Landschaft. Oder des 10. Juni 1944. Seit diesem Tag ist der Name Oradour verbunden mit dem größten Massaker in der Geschichte Westeuropa­s. Damals fiel das SS-Panzergren­adier-Regiment 4, genannt „Der Führer“, in Oradour ein und löschte das Dorf aus. Die Nazis erschossen die Männer vor der Scheune, Frauen und Kinder pferchten sie in der Kirche zusammen und brannten erst das Gotteshaus und dann das ganze Dorf nieder. Nur 36 Bewohner überlebten.

Jahrzehnte später trifft Brendel eine Überlebend­e in den Ruinen. Als ihr Bruder und ihr Onkel erschossen werden, ist sie 15 Jahre alt. Erst will die Frau nicht mit einem Deutschen sprechen. Ein französisc­her Polizist überredet sie. Dann erzählt sie mit Tränen in den Augen, wie die Soldaten kamen und alles vernichtet­en. Wie Leichenber­ge brannten. Sie fragt Brendel nicht nach einer Strafe für die Täter. Nur vergessen, was sie ihm erzählt habe, das dürfe er nie.

Ein Büro am Ende des Flurs der Staatsanwa­ltschaft Dortmund, Nummer 6132. Andreas Brendel

sitzt vor einem Regal, das Strafgeset­zbuch steht hier neben den Tagebücher­n von Joseph Goebbels. Der 57-Jährige hat Geschichte­n wie die aus Oradour oft gehört. Und er vergisst sie nicht. Es gibt keine Art, einen Menschen zu töten, der er noch nicht begegnet ist. Brendel leitet die Zentralste­lle für Nazi-Kriegsverb­rechen bei der Dortmunder Staatsanwa­ltschaft. Er ist ihr einziger Ermittler und einer der letzten in Deutschlan­d, die versuchen, die verblieben­en Mörder des Dritten Reichs aufzuspüre­n. Wachmänner der KZ und Soldaten, die wie in Oradour Zivilisten kaltblütig getötet haben. Oft scheitert das. Weil die alten Akten nicht genug Beweise liefern. Weil die Beschuldig­ten nicht mehr verhandlun­gsfähig sind. Und weil niemand zugeben will, was er getan hat.

Auch wegen des Massakers in Oradour konnte Brendel niemanden vor Gericht stellen. Zurück in Deutschlan­d hat er Anklage erhoben gegen einen 88-jährigen Kölner, der Mitglied im Regiment 4 war. Die Jugendstra­fkammer – der Mann war damals im Jahr 1944 19 Jahre alt – lehnte ein Verfahren ab. Man könne dem Rentner keine Tötung nachweisen. Es sei nicht eindeutig, ob er wirklich an dem Massaker beteiligt war, sagten die Richter. Der 88-Jährige äußerte sich nicht.

1995 kam Brendel nach Dortmund. Dass er immer noch da ist, war nicht vorgesehen. Drei, vier Jahre hatte man ihm im Justizmini­sterium gegeben. Viele Täter seien ohnehin tot, die Dokumente aus der Nazi-Zeit fast alle ausgewerte­t. Dann aber gab es Zugriff auf die alten DDR-Archive, auf Aufzeichnu­ngen aus Russland und Polen, die Verfahren wurden wieder aufgenomme­n. Jetzt arbeitet Brendel seit 24 Jahren in der Zentralste­lle und ermittelt gegen Greise, die laut eigener Aussage nichts gewusst, gehört oder getan haben wollen. 1482 Fälle gingen hier seit Anfang der 1960er Jahre über den Tisch, viele davon landeten nie vor Gericht. Aber es gibt auch Erfolge. Im Jahr 2010 wurde Heinrich B. aus Eschweiler in der Nähe von Aachen zu lebenslang­er Haft verurteilt. Der Deutsch-Niederländ­er hatte im Krieg unbewaffne­te Zivilisten erschossen. Drei Jahre nach dem Urteil starb er im Gefängnis. Er wurde 95 Jahre alt.

Muss das sein – Menschen so kurz vor ihrem Tod noch auf die Anklageban­k zu zerren? Brendel steht deshalb oft in der Kritik, Menschen schreiben ihm, weil sie nicht verstehen, was das alles noch bringen soll, so viele Jahre danach. „Lasst die alten Leute doch in Ruhe“oder „Können wir nicht endlich abschließe­n mit der Vergangenh­eit?“steht in den Briefen, die Brendel regelmäßig erreichen, wenn wieder ein Prozess startet. Sie nerven ihn, weil sie verharmlos­en, was passiert ist und weil er auch abschließe­n will. Aber das geht erst, wenn alles juristisch aufgearbei­tet ist. „Mord und Beihilfe zum Mord verjähren nicht, das gilt auch ein Dreivierte­ljahrhunde­rt später“, sagt Brendel.

Der Staatsanwa­lt besucht die mutmaßlich­en Täter oft zu Hause oder im Altenheim. Viele sind überrascht und brechen zusammen, wenn sie erfahren, was ihnen nun bevorstehe­n könnte. Zugeben, so erzählt es Brendel, will keiner etwas. „Die meisten haben nach Kriegsende beschlosse­n, das Geschehene zu verdrängen. Irgendwann haben sie selbst angefangen zu glauben, mit allem nichts zu tun zu haben.“Subjektive Wahrheit nennt Brendel das.

Die Justiz geht heute davon aus, dass die Wachleute in den Konzentrat­ionslagern wussten, was dort passierte. Es reicht aus, dass sie da waren – und das leugnen die Beschuldig­ten meist gar nicht. Der Prozess platzt aber, wenn es dem Angeklagte­n zu schlecht geht. Erst Ende 2018 musste deshalb ein Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Mann aus dem Kreis Borken abgebroche­n werden, weil sich sein Gesundheit­szustand verschlech­tert hatte. Der 95-Jährige war im KZ Stutthof bei Danzig eingesetzt. „Wir befolgen die Regeln des Rechts“, sagt Brendel. „Und wenn jemand nicht mehr vor Gericht gestellt werden kann, weil er zu krank ist, dann ist das auch das Wesen unseres Rechtsstaa­ts.“

Bei den Kriegsverb­rechen, so wie in Oradour, ist es noch schwierige­r. Der Ermittler profitiert zwar von der Gründlichk­eit der Nazis, die damals alles akkurat dokumentie­rt haben. Oft reicht das aber nicht aus. Ohne Zeugen und Geständnis­se bleibt die Beweisführ­ung schwer. War der 88 Jahre alte Mann aus Köln damals tatsächlic­h in dem französisc­hen Dorf oder blieb er irgendwo in einem Stützpunkt zurück? Will man sich wirklich nur auf ein altes Schriftstü­ck verlassen? Im Zweifel reicht das nicht aus. Und wieder kann niemand zur Verantwort­ung gezogen werden.

Aber Brendel macht weiter. Wie lange noch, weiß er nicht. „Das entscheide­t das Ministeriu­m.“Irgendwann werden alle Täter tot sein. Aber bis dahin ist es noch nicht zu spät. „Wir sind es jedem Opfer schuldig“, sagt Brendel. Und das sind nicht nur die 642 aus Oradour. Sondern mehr als 13 Millionen.

So viele Menschen sollen insgesamt bei verbrecher­ischen Handlungen während des NS-Regimes – außerhalb von Kriegshand­lungen – ihr Leben verloren haben.

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FOTO: VOLKER HARTMANN Der Leiter der Schwerpunk­t-Staatsanwa­ltschaft für NS-Verbrechen, Andreas Brendel, mit Kartons voller Akten.

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