Clara Schumann – für ihren Auftritt getadelt
DÜSSELDORF Der Pianist
Walter Gieseking, ein Gigant der Branche, liebte die Eisenbahn. Was machte er im Zugabteil, wenn er zu seinen Klavierabenden reiste? Er lernte neue Sonaten auswendig. Das Klavier brauchte er dazu nicht.
Dirigenten machen es ähnlich, sie haben keinen Roman im Koffer, sondern die Partitur von Verdis „Otello“, den sie demnächst dirigieren. Sie lesen sie, wie andere einen Krimi lesen. Mentales Üben nennt man das, und es funktioniert erstaunlich gut. Profis haben dabei allerdings auch meist eine Klangvorstellung: Was sie lesen, klingt sogleich in ihrer Vorstellung – als inneres Hören. Zugleich hat der Pianist, der erst einmal nur liest, statt direkt ans Klavier zu hechten, keine manuellen Hürden zu bewältigen. Trotzdem spielt sein Gehirn alles im Moment des Lesens gerade auch in jenem seiner Bereiche, in dem auch die automatisierten Handbewegungen gesteuert werden: in den Basalganglien.
Irgendwann haben Musiker alles intus, haben genug gelesen, dirigiert und analysiert – und sie führen ihre Werke auswendig auf. Der Laie staunt immer, wie diese Großmeister ihrer Disziplin ohne Noten drei Beethoven-Sonaten hintereinander bis in die kleinsten Verästelungen partiturgetreu spielen. Der Laie hat ja schon Schwierigkeiten, vier Zeilen Schiller aus dem Gedächtnis unfallfrei aufzusagen. Sind Musiker Hexenmeister? Besitzen sie ein besonders gutes Gedächtnis?
Nein, besitzen sie nicht, es ist nur besser trainiert. Es gibt natürlich Inselbegabungen wie etwa den legendären griechischen Dirigenten Dimitri Mitropoulos, der ein schier fotografisches Gedächtnis besaß. „Alle anderen lernen, indem sie wiederholen Buchtipp Wendelin Blitzan, „Auswendig lernen und spielen. Über das Memorieren in der Musik“. Peter Lang Verlag, 127 Seiten, 26,95 Euro
Zitat „Zu Lebzeiten der Wiener Klassiker wurde der auswendige Vortrag von Musikliteratur als geschmacklos empfunden. Und später tadelte Bettina von Arnim die junge Clara Schumann, die bereits in frühen Jahren als Künstlerin durch ihr Auswendigspiel Aufsehen erregte, für ihre Überheblichkeit.“ – erst mit, dann ohne
Noten“, sagt
Reinhard Kopiez. Er ist Professor für Musikpsychologie in Hannover und weiß, was unser
Gehirn beim Musikmachen anstellt; dazu zählt auch das
Üben und das Erlernen neuer Stücke.
„Aber der Pianist trifft nicht nur im richtigen
Moment die richtige
Taste, er weiß auch, warum er sie trifft. Er versteht den Zusammenhang.“Im Ernstfall bedeutet das beispielsweise: Der Pianist weiß, dass er im Kopfsatz von Mozarts „Sonata facile“vom Hauptthema in C-Dur zum Seitenthema nach G-Dur, zur Dominante, springen muss. Und wenn sein Gedächtnis das ebenfalls gespeichert hat, ist diese Information für sein Gehirn, das das Stück aus dem Kopf spielt, eine
Art Kompass.
Neurologisch ist das Gedächtnis aus mehreren Schubladen gebaut. Für den Musiker ganz wichtig ist das semantische und das prozedurale Gedächtnis. Semantik: Das sind Lerninhalte kognitiver Natur. Wurzel aus 16 ist vier. Die Hauptstadt von Belgien ist Brüssel. Die
Subdominante von Es-Dur ist
As-Dur, die parallele Molltonart ist c-Moll.
Prozeduren: Das sind Lerninhalte motorischer Art. Ich stehe aus dem Sitzen auf, ohne darüber nachdenken zu müssen. Ich gehe nachts im Dunkeln mit perfekter Orientierung auf die Toilette. Oder man greift eine Oktave instinktiv weit genug oder absolviert Sprünge in der linken Hand, ohne hinschauen zu müssen. Musiker sind auf ihre motorische Kompetenz im Raum angewiesen, und das Gedächtnis vor allem der Hand merkt sich alles. Jeder halbwegs brauchbare Pianist könnte jene Mozart-Sonate sogar mit verbundenen Augen hinkriegen. Kopiez: „Seine Hand-Ohr-Auge-Koordination hat alles gespeichert.“
Das Gedächtnis des Musikers ist demjenigen eines Normalsterblichen also nicht besonders überlegen, weswegen Kopiez ohne Umschweife sagt: „Jeder Musiker, auch der Laie, kann auswendig spielen oder singen. Wichtig ist es, dass er es häufig tut.“Schon der Kirchgänger kann es, wenn er zu Weihnachten drei Strophen von „Stille Nacht, heilige Nacht“inbrünstig aus dem Kopf mitsingt. Er singt sogar den alten Text, auch wenn im neuen Gesangbuch andere Formulierungen stehen.
Sänger in Laienchören könnten doppelt so gut klingen, wenn sie bei den Aufführungen nur endlich diese Noten wegließen, die sie wie Schutzschilde oder Rüstungen vor sich halten. „Außerdem schlucken diese Noten so viel Schall, dass beim Hörer deutlich weniger ankommt, als wenn sie auswendig sängen“, weiß Kopiez. Andererseits beherrscht sie die Angst vor dem Blackout, vor dem Blitz des Vergessens. Diese Angst ist gerade in Kollektiven wie Chören unbegründet: Bei einem Chor aus 20 Sängern spielt es keine Rolle, wenn ein einzelner Sopran oder ein Bass mal für einen halben Takt den Text vergisst oder aus der musikalischen Kurve fliegt und aussetzt. Schon im nächsten Takt ist er wieder drin – und von seinem Fauxpas hat außer ihm selbst keiner etwas bemerkt. „Laienchorsänger singen sowieso sehr oft aus dem Gedächtnis, weil viele von ihnen gar keine Noten lesen können“, sagt Kopiez.
Kopiez glaubt, dass das Auswendig-Spielen insgesamt überschätzt wird, was die künstlerische Bewertung betrifft: „Ein wirklich sehr genauer Zuhörer hört keinen Unterschied, ob ein Pianist mit oder ohne Noten spielt.“Das Publikum urteilt nach dem Augenschein: Der Mann wirkt so versunken in seine Klaviatur, er scheint eins mit der Musik, er klebt nicht an den Noten, wirkt nicht von ihnen absorbiert – für manche ist das ein Qualitätskriterium. Aber schlucken Noten wirklich Aufmerksamkeit? „Nein“, sagt Kopiez, „auch im Studio haben viele Künstler ja Noten vor sich, obwohl sie eigentlich kaum reingucken.“Und Dirigenten schauen nur selten in die Partitur, falls sie überhaupt eine vor sich liegen haben. Sie wissen meist sogar auswendig, wo sie umblättern müssen; auch das hat sich ihr Gehirn gemerkt.
Ohne Noten auf der Bühne – das scheint wie Hochseilakrobatik ohne Netz. Viele Dirigenten sind auf dem Konzertpodium in der Tat auch Gymnasten, Schauspieler für die Galerie – und sie müssen für sich selbst entscheiden, ob sie sich die Partitur hinlegen, in der sie alle paar Sekunden weiterblättern müssen, anders als der Pianist mit Noten, der meist einen Umblätterer neben sich sitzen hat. Im Orchestergraben in der Oper dirigieren Kapellmeister immer aus den Noten, allein weil auch viele Einsätze zu den Sängern zu geben sind. Im Jazz, wo improvisiert wird, steht auf dem Notenpult allenfalls die Melodiestimme mit Harmonien drüber, anders als im Big-Band-Jazz, wo die Musiker immer aus Noten spielen.
Das Musizieren ist nicht nur ein Akt des Augenblicks. Man weiß, wie es weitergeht, hört in der Regel mehrere Takte voraus, „das nennt man Antizipation“, sagt Kopiez. Diese Kompetenz haben auch Laien, wenn sie ein Stück nur gut genug kennen. „Dann können sie in diesem Moment auch probieren, es auswendig zu singen.“Am besten in kleinen Abschnitten. Tatsächlich: Anfangs darf man die Noten noch in der Hand halten. Irgendwann legt man sie weg. Effekt: Man fühlt sich freier.