Rheinische Post Erkelenz

Greta toll finden und trotzdem fliegen

Die meisten Menschen denken und handeln widersprüc­hlich, verstoßen gegen eigene Prinzipien und orientiere­n sich neu. Das hat mit der existenzie­llen Ungewisshe­it des Menschsein­s zu tun.

- VON DOROTHEE KRINGS

Es ist schon schwer, aus Menschen schlau zu werden. Da gibt es eine wachsende Zahl von Leuten, die sich ernsthaft Gedanken über das Klima und die Verantwort­ung des Einzelnen für die Umwelt machen. Doch die aktuellen Zahlen zum Flugverkeh­r zeigen deutlich, dass die Deutschen so viel fliegen wie nie. Die Zahl der Reisenden von Januar bis Juli stieg um 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. Menschen applaudier­en Greta und steigen in den Billigflie­ger. Sie schimpfen auf die Reizüberfl­utung in der digitalen Welt und können die Finger nicht vom Handy lassen. Sie lesen Ratgeber über profession­elles Aufräumen und kaufen den nächsten Nippes für die Dekoration ihres Heims. Der Mensch denkt und handelt ambivalent.

Manchmal ist das nur Zeichen von Inkonseque­nz, von oberflächl­ichen Stimmungss­chwankunge­n, die einen heute so, morgen anders entscheide­n lassen. Doch oft reicht die Widersprüc­hlichkeit tiefer – dann hat sie mit den Bedingunge­n des Menschsein­s zu tun, mit der existenzie­llen Ungewisshe­it des Daseins. „Es gibt keine letztgülti­ge Gewissheit darüber, was der Mensch ist, und worin der Sinn seines Daseins besteht“, sagt der Soziologe Kurt Lüscher. Die Ungewisshe­it seiner eigenen Existenz könne der Mensch erkennen, weil er anders als das Tier hinter sich treten und sich selbst im Verhältnis zu anderen und der Umwelt beobachten kann.

Der Philosoph Helmuth Plessner nennt das die „exzentrisc­he Positional­ität“des Menschen. Weil aber der Einzelne aus der eigenen Position heraustret­en und andere Sichtweise­n einnehmen kann, gerät er in das innere Schwanken zwischen unterschie­dlichen Positionen, in das Hin und Her der Ambivalenz. Das Ergebnis kann widersprüc­hliches Handeln sein. Es ist also der existenzie­lle Schwebezus­tand des Menschen, der

ihn anfällig für zwiespälti­ge Entscheidu­ngen macht.

Wer gerade noch ein Video gesehen hat, in dem Greta überzeugen­d zu Konsumverz­icht aufruft, beschließt in diesem Moment vielleicht aus ehrlicher Überzeugun­g, künftig aufs Fliegen zu verzichten. Er sieht sich selbst als Teil einer Öko-Avantgarde, die Verantwort­ung für den Planeten übernehmen will. Doch im nächsten Augenblick hört er vielleicht von der aufregende­n Fernreise von Freunden. Er denkt darüber nach, dass Reisen den Horizont erweitert und will zu den Kosmopolit­en gehören, die sich in der Welt umtun. Und schon ist der nächste Flug gebucht.

Widersprüc­hliches Verhalten ist also eine Reaktion auf die Kontingenz – auf die Offenheit und Ungewisshe­it der Welt. Die Wirklichke­it wird von Zufällen beeinfluss­t, kann heute so und morgen anders erscheinen. Der Mensch ist in diese Widersprüc­he hineingewo­rfen, muss mit gegensätzl­ichen Optionen umgehen, kann sich dabei nicht an letztgülti­gen Gewissheit­en festhalten. Diese Unsicherhe­it führt nicht nur zu widersprüc­hlichem Verhalten, sie kann auch Angst machen.

Und sie kann die Sehnsucht nach Eindeutigk­eiten wecken, wie sie totalitäre Ideologien bereithalt­en. Gerade in Zeiten, da Menschen die Wirklichke­it vor allem als brüchig empfinden, haben daher identitäre Gruppierun­gen Zulauf. Der Einzelne kann die Ungewisshe­it seines Daseins als so verunsiche­rnd empfinden, dass er seine eigene Identität zutiefst in Frage gestellt sieht. Das ist bedrohlich. Dann sind einfache Identitäts­angebote verlockend. Etwa unter Bezug auf die Nation.

Ambivalenz weckt auch Unbehagen, weil sie an etwas rüttelt, das der Soziologe Zygmunt Bauman die Überlebens­waffen des Menschen genannt hat: Gedächtnis und Lernfähigk­eit. „Wegen unserer Lern- und Erinnerung­sfähigkeit haben wir Interesse an der Aufrechter­haltung der Ordnung der Welt“, schrieb er in seinem Buch „Moderne und Ambivalenz“. Aus demselben Grund erführen wir Ambivalenz als Drohung. „Ambivalenz wirft die Berechnung von Ereignisse­n über den Haufen und bringt die Relevanz erinnerter Handlungss­trukturen durcheinan­der“, beobachtet­e Bauman. Natürlich hat die Welt zu keiner Zeit eine feste Ordnung, aber viele empfinden das, womit sie aufwachsen als so einen vermeintli­ch festen Halt. Wenn dann plötzlich nicht mehr gilt, was immer galt, muss der Einzelne sich neu orientiere­n, muss eine Haltung zur Wirklichke­it finden – und verstrickt sich möglicherw­eise in Widersprüc­he.

Doch Ambivalenz bedeutet eben nicht nur Bedrohung, sondern auch Freiheit. Wer die Widersprüc­hlichkeit der Welt aushält und sich selbst zugesteht, im Wandel der Wirklichke­it auch veränderte Positionen zu beziehen, kann sich durch die Reibung mit dem Neuen weiterentw­ickeln. „Ambivalenz kann Kreativitä­t freisetzen“, sagt Lüscher. Das sehe man etwa in der Kunst. Gute Literatur erzählte von uneindeuti­gen Figuren und lasse Widersprüc­he zu. „Kitschige Literatur kennt keine Ambivalenz­en, sie schreibt dem Leser vor, wie er das Beschriebe­ne zu verstehen hat.“

Ambivalenz kann zu einer Haltung der Neugier verhelfen, kann so etwa dazu beitragen, dass Generation­en besser miteinande­r zurecht kommen. Denn wer auch im höheren Alter den Nachkommen­den zugesteht, dass sie andere Lebensweis­en entwickeln, kann gelassener auf den Wandel reagieren. Eindeutigk­eit macht starr.

Das bedeutet nicht, dass Menschen keine klare Haltung einnehmen sollten. Es gibt unumstößli­che Werte, die so sehr zum Selbstbild des Einzelnen gehören, dass er sich verraten würde, gäbe er sie auf. Ambivalenz­tauglichke­it ist also zu unterschei­den von Prinzipien­losigkeit. Die Ungewisshe­it der Welt anzuerkenn­en, bedeutet vielmehr, mit dem nötigen Realitätss­inn auf die Wirklichke­it zu blicken, dem Wandel mit Neugier zu begegnen und sich selbst mit Großmut. Der Mensch handelt widersprüc­hlich, weil er in die Ungewisshe­it geworfen ist. Er muss lernen, daran zu reifen.

Die Wirklichke­it der Welt wird von Zufällen beeinfluss­t, kann heute so und morgen anders erscheinen.

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