Rheinische Post Erkelenz

Furchtbare Bilder vor Gericht

„Abscheulic­h, monströs, widerlich“– diese Begriffe reichen laut Richterin Anke Grudda nicht aus, um die Taten von Lügde zu beschreibe­n. Die Angeklagte­n hätten Kinder zu Sexobjekte­n degradiert. Und sie wollten immer neue Opfer.

- VON CHRISTIAN ALTHOFF

DETMOLD Es sind bewegende 40 Minuten, in denen die Vorsitzend­e Richterin Anke Grudda das Urteil begründet. Eine kleine Kamera auf dem Richtertis­ch ist auf sie gerichtet und überträgt alles in einen anderen Saal. Dort sitzen Opfer mit ihren Angehörige­n.

Die sonst übliche, streng juristisch­e Urteilsbeg­ründung erspart Grudda den Opfern und Zuschauern. Paragraphe­n, Beweiswürd­igung, die Festlegung der Strafen für die einzelnen Taten – alles das wird sich im schriftlic­hen Urteil finden, für das das Gericht noch ein paar Wochen Zeit hat. Heute ist der Tag, an dem sich die beiden Angeklagte­n anhören sollen, was sie verbrochen haben. Und der Tag, an dem das Gericht an das Leid der vielen jungen Opfer erinnern wird.

Nach zehn Verhandlun­gstagen bleibe auch beim Gericht Fassungslo­sigkeit zurück, sagt die Vorsitzend­e Richterin. „Es ist schwer, das Geschehen in Worte zu fassen. Abscheulic­h, monströs, widerlich – diese Begriffe reichen nicht.“Das Gericht habe sich furchtbare Bilder angesehen, die man vielleicht immer im Kopf behalte. „Wir müssen es heute einmal klar beim Namen nennen. Wir sprechen von Anal-, Vaginal- und Oralverkeh­r, und das jüngste Opfer war erst vier Jahre alt.“

20 Jahre lang habe Andreas V. Kinder missbrauch­t, bei Mario S. seien es 15 Jahre gewesen. „Warum konnten diese Taten inmitten unserer Gesellscha­ft so lange unentdeckt bleiben?“, fragt Grudda. Eine Antwort gibt sie nicht. Aber sie sagt: „Es gab vereinzelt Hinweise, nur passiert ist nichts.“Als sich ein Mädchen seiner Mutter anvertraut habe, habe die gesagt: „Erzähl’ nicht so einen Scheiß.“Ein anderes Mädchen sei nach den Wochenende­n auf dem Campingpla­tz immer mit einer geröteten Scheide nach Hause gekommen. „Aber die Eltern haben diese deutlichen Kennzeiche­n nicht erkannt.“Es sei nicht Gegenstand dieses Prozesses gewesen zu klären, wie konsequent Polizei und Staatsanwa­ltschaft damals Hinweisen nachgegang­en seien, sagt die Richterin. „Fest steht aber, dass die Männer über Jahre ungestört ihre widerwärti­gen Taten begehen konnten.“

Um 24 Mädchen und acht Jungen sei es in diesem Verfahren gegangen, die wirkliche Opferzahl sei möglicherw­eise höher. Eigentlich müssten alle namentlich erwähnt werden, um zu zeigen, dass hinter den Zahlen Persönlich­keiten mit Geschichte­n und Schicksale­n stünden, sagt die Richterin. Aber natürlich nennt sie die Namen aus Opferschut­zgründen nicht.

Diese Kinder und Jugendlich­en hätten unermessli­ches Leid erfahren. Sie seien zu Sexobjekte­n degradiert worden und hätten körperlich und seelisch gelitten. Die Opfer stünden jetzt „vor der unfassbar schweren Aufgabe“, sich mit dem Geschehen auseinande­rzusetzen und ihr Leben zu gestalten. „Vielleicht kann das heutige Urteil eine Zäsur sein, die es dem ein oder anderen etwas einfacher macht.“Andreas V. zugewandt sagt Grudda, er habe Kinder auf abstoßende Weise manipulier­t. Ein Kinderpara­dies habe er geschaffen, so hätten es Opfer beschriebe­n. Mit Nachtwande­rungen, Lagerfeuer­n, Süßigkeite­n und Ausflügen habe er Kinder geködert, um sie dann zu missbrauch­en. „Ein Mädchen hat ausgesagt: ,Der Tag war so schön, und am Abend hat er alles kaputtgema­cht’.“Doch auch mit Drohungen, Erpressung­en und Gewalt seien Kinder gefügig gemacht worden. „Ein Mädchen wurde Anke Grudda Richterin sogar von Andreas V. geschlagen, als es den Oralverkeh­r abbrechen wollte.“

Die Kinder vom Campingpla­tz „Eichwald“hätten Andreas V. aber nicht genügt. „Sie wollten immer neue Opfer. Sie haben mit Ebay-Anzeigen alleinerzi­ehende Eltern gesucht, Sie haben Ihre Opfer aufgeforde­rt, Freundinne­n mit auf den Campingpla­tz zu bringen, und Sie haben sich im Schwimmbad an fremde Kinder herangemac­ht“, sagt Grudda in Richtung des Angeklagte­n. Auch seine heute acht Jahre alte Pflegetoch­ter habe er als Lockvogel missbrauch­t.

Dieses Pflegekind sei ein besonderes Opfer gewesen, sagt Grudda. „Das Mädchen hatte keine Familie, bei der es hätte Schutz suchen können. Es hat Sie geliebt, und Sie haben das schamlos ausgenutzt. Das Kind war Ihnen schutzlos ausgeliefe­rt.“Von den 285 Taten, die das Gericht diesem Angeklagte­n zurechnet, betreffen 129 Taten die Pflegetoch­ter.

Anke Grudda sagt, manche Kinder hätten bis heute Angst vor den Tätern. „Sie fürchten, sie könnten aus dem Gefängnis ausbrechen und ihren Familien etwas antun.“Ein Mädchen habe gefragt, ob es ins Kindergefä­ngnis müsse, wenn es etwas über Andreas V. sage. Ein anderes Kind habe der Richterin gesagt, es habe Angst davor, vor Gericht zu weinen. „Manche der Opfer haben ihr Vertrauen in Erwachsene verloren. Sie wissen nicht mehr, wer gut ist und wer böse.“

Dann dankt Grudda der Bielefelde­r Polizei, die es geschafft habe, von den jungen Opfern Aussagen zu bekommen. Aus den wörtlichen Protokolle­n der Vernehmung­en ergebe sich, dass kein Kind habe sprechen wollen. „Alle haben sich geschämt. Sie sagten anfangs, es sei nichts passiert, und sie könnten sich an nichts erinnern.“Mit viel Gefühl, Empathie und Hartnäckig­keit hätten es die Beamten in oft stundenlan­gen Befragunge­n geschafft, die Kinder zu detaillier­ten Aussagen zu bewegen. „Die Polizei hat großartige Arbeit geleistet.“

Die unterschie­dlichen Strafen begründet Grudda mit der unterschie­dlichen Zahl der Verbrechen und der Tatzeiträu­me. „Vielen Menschen erscheint für diese Verbrechen nur die lebenslang­e Haft gerecht, aber die sieht das Gesetz nicht vor.“15 Jahre Gefängnis seien die höchste Strafe, aber die habe man nicht verhängen können. „Das Gesetz schreibt vor, dass wir Geständnis­se strafmilde­rnd werten müssen und auch den Umstand, dass jemand nicht vorbestraf­t ist.“Außerdem, sagt Grudda, wäre eine Verurteilu­ng zu 15 Jahren Haft auch nicht im Interesse künftiger Opfer: „Wenn Täter sehen, dass es trotz eines Geständnis­ses die Höchststra­fe geben kann, werden sie schweigen. Und das bedeutet, dass Opfer vor Gericht aussagen müssen.“

Zum Schluss sagt Grudda, an der Sicherungs­verwahrung führe für beide Männer kein Weg vorbei. „Haft und Therapie werden Sie nicht ändern. Sie bleiben eine Gefahr, so hat es uns die Gutachteri­n schlüssig erklärt.“

„Haft und Therapie werden Sie nicht ändern. Sie bleiben eine Gefahr“

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FOTO: STEFAN FINGER Auf dem Campingpla­tz „Eichwald“in Lügde geschahen die schrecklic­hen Taten.
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