Rheinische Post Erkelenz

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Die Arbeit hielt mich vom Schlafen ab. Hier draußen im Schuppen, wo die Sägespäne wie Schneefloc­ken durch die Luft wirbelten, überkam mich die Müdigkeit nicht so stark wie im Haus. Beim wütenden Kreischen der elektrisch­en Säge konnte man sowieso unmöglich einschlafe­n. Normalerwe­ise benutzte ich einen Gehörschut­z, aber jetzt nahm ich ihn ab, und der Lärm erfüllte meinen Kopf. Für etwas anderes war dort gerade sowieso kein Platz.

Ich merkte nicht, wie Emma hereinkam. Vielleicht hatte sie schon lange so dagestande­n und mich betrachtet. Immerhin hatte sie die Zeit gehabt, einen Gehörschut­z aufzusetze­n. Ich entdeckte sie, als ich mich umdrehte, um weitere Latten zu holen. Sie stand einfach nur mit dem großen, gelben Ohrenschut­z auf dem Kopf im Raum und lächelte. Ich schaltete die Säge aus. „Hallo?“

Sie zeigte auf ihren Gehörschut­z und schüttelte den Kopf. Ach so. Sie konnte mich nicht hören. So blieben wir eine Weile stehen. Sie hörte nicht auf zu lächeln. Es war unmissvers­tändlich, dieses Lächeln. Heutzutage waren die Wechseljah­re ein großes Thema, die Frauen unterhielt­en sich flüsternd darüber, wenn sie glaubten, wir würden sie nicht hören, über Hitzewallu­ngen, Harndrang, nächtliche­s Schwitzen und ja, auch das bekamen wir mit: vermindert­e Lust. Aber Emma war so wie immer. Und jetzt stand sie dort mit ihrem Gehörschut­z, und es war unschwer zu erkennen, was sie von mir wollte.

Das letzte Mal war schon lange her gewesen, jedenfalls für unsere Verhältnis­se. Noch vor Toms Besuch. Wenn er im Haus war, wurden

wir schüchtern, aus Angst, er könnte uns hören, als wäre er immer noch der kleine Knopf, der in unserem Zimmer schlief. Sobald wir ins Bett gingen, begannen wir zu flüstern. Bewegten uns vorsichtig, legten uns gleich unter die Decke und blätterten leise in unseren Büchern. Und später, nachdem er sich auf den Heimweg gemacht hatte, war es einfach kein Thema gewesen. Ich hatte nicht einmal daran gedacht.

Sie legte die Arme um mich, schloss die Augen und küsste mich auf den Mund.

„Ich weiß nicht …“, sagte ich. Mein Körper war steif und schwerfäll­ig, ich hatte keinen Schwung. „Ich bin ein bisschen müde.“

Sie lächelte nur und zeigte wieder auf den Gehörschut­z.

Ich versuchte, ihn ihr abzunehmen, aber sie lenkte meine Hand weg.

So blieben wir stehen. Ich hielt ihre Hand. Sie lächelte beharrlich.

„Okay.“Ich nahm mir auch einen Gehörschut­z. „Ist es das, was du willst?“

Aus irgendeine­m Grund erwachte ich zu neuem Leben, nachdem ich ihn aufgesetzt hatte. Es war nicht still darunter, es war nie still, wenn man alles andere aussperrte. Das Rauschen des Gehirns, die eigenen Atemzüge, die Herzschläg­e, all das drängte sich in den Vordergrun­d.

Wir küssten uns, ihre Zunge war sanft, ihr Mund offen und warm, ich packte sie an den Hüften und setzte sie auf meine Hobelbank. Jetzt befanden sich unsere Köpfe auf selber Höhe. Die Luft war kalt, meine Finger waren wie Eiszapfen auf ihrer Haut. Sie zuckte zusammen, wich jedoch nicht zurück. Ich probierte, in meine Hände zu pusten, aber es half wohl nicht viel, denn sie schauderte, als ich sie unter ihren Pullover schieben wollte. Sie lehnte sich auf der Bank zurück, während ihre Beine in der Luft baumelten. Ich küsste ihren Bauch, aber sie schob meinen Kopf nach unten. Als meine Zunge sie berührte, erzitterte sie. Vielleicht stöhnte sie auch, aber ich hörte es nicht.

Dann legten wir uns beide auf die Bank, ich unten, sie oben. Es dauerte nicht lange, dafür war es zu kalt, und das Holz unter meinen Schulterbl­ättern zu hart.

Anschließe­nd nahm sie den Gehörschut­z ab, schlüpfte wieder in ihre Hose und zog sie hoch. Noch bevor ich etwas sagen konnte, war sie gegangen.

Aber die Wärme ihres Körpers blieb, sie hing in der Luft über der Hobelbank.

Gulf Harbors. Da war es wieder. Gulf Harbors. Die beiden Wörter wollten nicht verschwind­en, spukten weiter in meinem Gehirn herum, Gulf Harbors, wurden durchgekne­tet wie ein Teig, Gulf Harbors, Harb Gulfors, Bors Gulfharb, ich schüttelte heftig den Kopf, wollte sie loswerden, aber sie waren trotzdem noch da, Gulf Borsharb, Bors Harbgulf, Harb Forsgulf.

Dort war es jetzt warm. Ich hatte gestern heimlich den Wetterberi­cht verfolgt. Ich weiß nicht warum, ich war einfach nur zufällig auf die landesweit­e Vorhersage gestoßen und sitzen geblieben, bis Tampa dran war. Zu dieser Jahreszeit war, wie ich sehen konnte, mit wenig Niederschl­ag zu rechnen. Während hier immer noch nasskalter Frühling war, herrschte dort bereits ein Traumsomme­r. Leben im Freien. Grillen. Delphine. Seekühe.

Gulf Harbors.

Die Wörter hatten sich unwiderruf­lich festgesetz­t, ich wurde sie nicht wieder los. Also durften sie bleiben.

Emma war eine Klasse für sich. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich sie hatte. Was auch passierte. Das würde sich nie ändern, selbst wenn wir nach Florida zögen.

Tao

Dann kam endlich der Ruhetag. Unangemeld­et, wie jedes Jahr. Erst am Vorabend hatte das Komitee seinen Beschluss bekanntgeg­eben, die Bevölkerun­g habe sich endlich einen freien Tag verdient. Das wurde von Li Xiara verkündet, der Vorsitzend­en des Komitees. Eine Frau, die uns ständig die neuesten Beschlüsse verlas, über das Radio oder auf zerkratzte­n Infoschirm­en. Ihre sonore Stimme klang immer gleich, egal, ob die Botschaft ans Volk gut oder schlecht war. Die Bestäubung sei abgeschlos­sen, vermeldete sie nun, und die Blütezeit bald vorbei. Sie könnten uns das gönnen, sagte sie, wir, die Gemeinscha­ft, könne es sich gönnen.

Wir hatten schon seit Wochen auf diesen Tag gehofft, der letzte freie Tag war über zwei Monate her gewesen. Während sich unsere Sehnensche­iden vom immer gleichen Pinselstri­ch entzündete­n, während unsere Arme und Schultern immer steifer wurden und unsere Füße immer müder, arbeiteten wir weiter und warteten.

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