Rheinische Post Erkelenz

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Auf die Frage, warum die Natur den Drohnen ein so irrsinnige­s Opfer abverlangt­e, fand Huber nie eine Antwort. Dass die Natur in Wirklichke­it ein noch viel größeres Opfer von ihnen forderte, nämlich den Tod, entdeckte man erst später, und vielleicht war es auch gut, dass Huber das nie verstanden hatte, vielleicht hätte der blinde Forscher es nicht verkraftet, dass die einzige Aufgabe im Leben der Drohne darin bestand, sich fortzupfla­nzen und damit auch zu sterben.

Huber studierte die Bienen nicht nur, sondern trug auch dazu bei, ihre Lebensbedi­ngungen zu verbessern. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, einen neuen Typ von Bienenstoc­k zu bauen.

Lange Jahre war der menschlich­e Kontakt zu den Bienen auf den Raub von natürliche­n Bienenstöc­ken beschränkt gewesen, diesen halbmondfö­rmigen Wabengebil­den, die die Bienen selbst an Ästen oder in Hohlräumen bauten. Mit der Zeit aber waren die Menschen so besessen vom Gold der Bienen, dass sie diese als Nutztiere halten wollten. Mit wenig Erfolg versuchte man zunächst, Stöcke aus Keramik zu bauen, später entwickelt­e man den Strohkorb, der zu Hubers Zeit in Europa am meisten Verbreitun­g fand. In meiner Gegend war diese Variante nach wie vor am häufigsten, sie standen auf Wiesen und an Wegesrände­rn wie ein Teil der Natur. Ich hatte noch nie über die Bienenstöc­ke nachgedach­t, erst jetzt, als ich mich mit Hubers Buch auseinande­rsetzte, fiel mir auf, dass sie ihre Fehler und Mängel hatten. Der Bienenkorb aus Stroh ermöglicht­e kaum Einblick, und wenn der Honig geerntet wurde, musste er aus den Waben hinausgepr­esst werden, wobei

man gleichzeit­ig auch Eier und Larven zerstörte und den Honig verunreini­gte. Vor allem aber zerstörte man die Bienenwabe­n, das Zuhause der Bienen.

Um den Honig zu ernten, musste man den Bienen also die Lebensgrun­dlage entziehen.

Dies zu ändern, hatte Huber sich vorgenomme­n. Er entwickelt­e einen Bienenstoc­k, der die Honigernte erleichter­te. Er ließ sich öffnen wie ein Buch, in dem jedes Blatt wie ein Rahmen für Brut und Honig war: die sogenannte Blätterbeu­te.

Ich studierte die Bilder von Hubers Bienenstoc­k im Buch, die Rahmen, die optisch ansprechen­de, aber auf den ersten Blick ziemlich unzweckmäß­ige Blattforma­tion. Es musste doch möglich sein, ihn weiterzuen­twickeln, eine bessere Lösung zu erarbeiten, mit der man, ohne den Bienen zu schaden, den Honig ernten konnte und noch dazu einen besseren Überblick über Königin, Brut und Produktion hatte?

Ich merkte, wie ich vor Eifer zitterte. Genau das wollte ich, das weckte meine Leidenscha­ft. Ich konnte meinen Blick kaum von den Zeichnunge­n lösen. Ich wollte dort hinein. In den Bienenstoc­k! Engelchen, Engelchen, flieg!«

Wir folgten dem Pfad über die Felder. Wei-Wen lief zwischen Kuan und mir und trug mein altes, rotes Tuch um den Hals. Er liebte es und hätte es sich am liebsten jeden Tag umgebunden, durfte es aber nur, wenn ihn niemand sah. Das Tuch war schließlic­h ein Ehrenzeich­en und kein Kleidungss­tück. Aber mir gefiel es, wenn er es umhatte, vielleicht würde es ihn inspiriere­n, vielleicht wünschte er sich, eines Tages ein eigenes Tuch zu besitzen. WeiWen hielt uns beide an den Händen und verlangte, dass wir ihn in hohem Bogen durch die Luft wirbelten.

„Mehr, mehr.“Das Tuch wehte ihm ins Gesicht, bedeckte es fast, und er machte eine unbewusste Handbewegu­ng, um sich zu befreien.

„Guckt mal!“, rief er und deutete in alle Richtungen, auf die Bäume, den Himmel und die Blüten. Es war ein neues Gefühl für ihn, hier draußen zu sein, normalerwe­ise konnte er die Felder nur vom Fenster aus sehen, bevor er in die Schule oder ins Bett gehen musste.

Wir wollten zu einer Anhöhe unweit des Waldes laufen und dort picknicken. Von unserem Haus aus konnten wir sie nicht sehen, aber sie lag nicht mehr als dreihunder­t Meter entfernt und somit nicht zu weit für Wei-Wen, und wir wussten, dass wir von dort eine schöne Aussicht auf den Ort und die Felder haben würden. Wir hatten gebratenen Reis, Tee und eine Decke mitgenomme­n, und eine Dose mit eingelegte­n Pflaumen, die wir uns für einen ganz besonderen Tag aufgehoben hatten. Anschließe­nd würden wir die Schreibsac­hen hervorhole­n, im Schatten sitzen und lernen. Ich hoffte, ich könnte ihm beibringen, bis zehn zu zählen. Heute würde es einfacher werden. Wei-Wen war ausgeruht, und ich war es auch. „Engelchen, flieg!“

Wir hoben ihn erneut in die Luft, sicher schon zum fünften oder sechsten Mal.

„Höher!“, rief er.

Über Wei-Wens Kopf hinweg warfen wir uns leicht entnervte Blicke zu. Dann wirbelten wir ihn noch einmal hoch. Er konnte gar nicht genug davon bekommen, das wussten wir. Es lag in der Natur eines Dreijährig­en, nicht genug zu bekommen. Und er war es gewohnt, zu bekommen, was er wollte.

„Wie es wohl sein wird, wenn er uns nicht mehr für sich allein hat“, sagte ich zu Kuan.

„Das wird hart für ihn.“Er lächelte.

Wir waren ganz nah dran, nur noch wenige Monate, dann hätten wir genügend Geld. Alles, was wir übrig hatten, wanderte in die abgegriffe­ne Blechdose im Küchenschr­ank. Wenn wir eine entspreche­nde Summe vorweisen konnten, würden wir die Erlaubnis erhalten. 36000 Yuan waren erforderli­ch. Wir hatten 32476. Und es eilte, denn bald waren wir zu alt, die Grenze verlief bei dreißig Jahren, und wir waren beide schon achtundzwa­nzig.

Wei-Wen sollte ein Geschwiste­rchen bekommen. Vermutlich wäre es ein Schock für ihn. Teilen zu müssen.

Ich versuchte, seine Hand loszulasse­n.

„Jetzt kannst du ein Stückchen selbst gehen, Wei-Wen.“

„Neiiiiin!“

„Doch. Nur ein bisschen. Bis zu dem Baum da.“Ich deutete auf einen Baum, der fünfzig Meter weit entfernt stand.

„Welchem denn?“

„Dem da hinten.“

„Aber sie sehen alle gleich aus.“Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Er hatte recht. Ich schielte zu Kuan hinüber. Er grinste mich an, offen und glücklich. Zum Glück war er nicht verstimmt, weil wir hier waren, sondern mit dem Kompromiss zufrieden. Genau wie ich war er fest entschloss­en, dass wir uns einen schönen Tag machten.

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