London fürchtet Engpässe nach Brexit
Die britische Regierung muss interne EU-Austritt-Szenarien offenlegen: Lebensmittel und Medikamente würden knapp.
BERLIN/LONDON Das Blaue vom Himmel hatte Boris Johnson den Briten in der Kampagne um den Austritt aus der EU 2016 versprochen. Milliarden und Abermilliarden müsse London dann nicht mehr nach Brüssel überweisen, sondern könne das Geld in die britischen Sozialsysteme stecken. Schon damals waren, wie er selbst wusste, seine Zahlen pure Fantasie. Nun musste er auf Beschluss des Parlaments auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und die intern in der Regierung entwickelten Szenarien für den Brexit aufdecken. Darin wird klar: Es ist der Weg ins Chaos.
Ein harmloser Singvogel musste seinen Namen für das fünf Seiten umfassende Papier unter dem Code „Operation Goldammer“hergeben. Es beginnt bei vermeintlich harmlosen Feststellungen wie der Terminierung am letzten Freitag im Oktober als erstem Tag außerhalb der EU und den Auswirkungen auf Warenströme und Verkehrsflüsse. Doch sehr schnell sind die Verfasser bei den auf den vertragslosen Brexit nicht ausreichend vorbereiteten Speditionen und Zollabfertigungen. Und dann fängt es sofort an, knifflig zu werden: Wenn für Tierhalter das Futter und die Medikamente ausgehen und Seuchen auszubrechen drohen. Wenn die Staus vor dem Ärmelkanal-Tunnel immer größer werden und auch in den britischen Regalen die Lebensmittel knapp werden. Und dann fällt mit dem Blick auf mögliche Reaktionen das kritischste Wort: „Unruhen“. Auch vor der Küste könnte es mit der Ruhe vorbei sein: Offene Konflikte hält das Papier zwischen britischen und EU-Fischern für möglich.
Besonders kritische Zustände befürchtet London an den Grenzen zwischen dem britischen Gibraltar und dem EU-Mitglied Spanien sowie zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Regierungskreise in London beeilten sich darauf hinzuweisen, dass diese Beschreibungen nur die schlimmstmöglichen Betrachtungen seien und es wohl eher nicht so kommen werde. Ein Vergleich mit einer im August durchgestochenen Version lässt indes vermuten, dass die Regierung die Worte „Worst Case“in der Überschrift hinzugefügt hat, um die Auswirkungen des No-Deal-Brexits verharmlosen zu können.
Auffällig ist auch, dass die Regierung nicht alles offenlegt. Die ebenfalls angeforderten E-Mails und Aufzeichnungen von Besprechungen fehlen. Und auf Seite vier ist der Unterpunkt 15 komplett geschwärzt. Es gehe hier um „geschäftlich sensible“Informationen, hieß es zur Begründung. In der Vorgängerversion bezog sich dieser Paragraf auf die Einschätzung, dass Ölexporte in die EU nicht mehr wettbewerbsfähig seien und damit die britische Raffinerie-Kapazität heruntergefahren werden müsse. Dieses führe zur Schließung
von zwei Raffinerien und zum direkten Verlust von 2000 Arbeitsplätzen. Schwindende Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplatzverluste sind nicht unbedingt das, was Brexit-Aktivist Johnson als Ergebnis seiner Kampagne in Aussicht gestellt hat.
Zusätzlich bekommt er jetzt Probleme an einer anderen Front. Die von der Queen auf seine Empfehlung hin verhängte Zwangspause für das Parlament sollte nach seinen Erläuterungen der Vorbereitung eines Regierungsprogramms dienen. Nach der Veröffentlichung der „Operation Goldammer“erscheint es plausibler, dass er angesichts der chaotischen Szenarien weitere Niederlagen im Unterhaus auf dem Weg zum ungeordneten Brexit verhindern wollte. Dies liefe darauf hinaus, die Queen als formelle Inhaberin der Regierungsgewalt und Teil des parlamentarischen Systems belogen zu haben.
Szenarien für einen ungeordneten Brexit sind auch in der EU und insbesondere auch in der Bundesregierung entwickelt worden. Auf den meisten Feldern hat die EU Vorkehrungen gegen die schlimmsten Auswirkungen eines abrupten Austritts getroffen. So gelten für Einund Ausreisen Übergangsbestimmungen, die vorerst eine Visapflicht verhindern.
Wer jedoch mit Hund und Katze reist, muss sich jedenfalls bei einem No-Deal-Brexit auf schärfere Auflagen einstellen, da die Regeln für Drittstaaten gelten können. Und auch die Nutzung des Smartphones dürfte bei einem Verlassen des EU-Raumes über Nacht massiv teurer werden, weil die neuen Roaming-Vorschriften dann nicht mehr in Großbritannien gelten. Viele deutsche Unternehmen haben sich, einschlägigen Empfehlungen des Wirtschaftsministeriums und der örtlichen Handelskammern folgend, auf Handicaps im Handel mit den Briten eingestellt. Laut „Goldammer-Papier“gilt das jedoch nicht für bis zu 85 Prozent der britischen Lkw im Kontakt mit der französischen Grenzkontrolle.