Rheinische Post Erkelenz

„Ich wusste nicht, ob ich es lebend schaffe“

Der Angriff auf die Synagoge und einen Döner-Imbiss in Halle schockiert die Menschen. Die Stadt ist ein Schwerpunk­t des Rechtsextr­emismus.

- VON GREGOR MAYNTZ, OLIVER MÜLLER-LOREY UND DIRK SKRZYPCZAK

HALLE Eigentlich will die junge Amerikaner­in am Mittwochmi­ttag nur einen Spaziergan­g im Park hinter dem Wasserturm machen, um wieder wach zu werden. Die frühe Zugfahrt von Berlin nach Halle hat die Frau, die mit anderen gläubigen Juden Jom Kippur in der Synagoge an der Humboldtst­raße feiern will, erschöpft. Um kurz nach 12 Uhr ist die Müdigkeit weg: Eine Explosion, gefolgt von Schüssen, erschütter­t das Paulusvier­tel. Innerhalb weniger Minuten bringt ein Einzeltäte­r zwei Menschen um und verletzt zwei weitere.

Doch davon weiß die Amerikaner­in noch nichts. „Ich habe ein Geräusch gehört, konnte es aber nicht zuordnen“, sagt sie nahe der Humboldtst­raße, wo Polizisten ein Absperrban­d gezogen haben. Sie sind leicht bewaffnet, noch weiß kaum jemand, wie ernst die Lage ist. Ein Student, 28 Jahre alt, tippt mit zitternden Fingern Nachricht nach Nachricht in sein Handy. Was seine Freundin, die in der Humboldtst­raße wohnt, ihm geschriebe­n hat, klingt unglaublic­h. „Sie hat gesehen, wie ein schwer bewaffnete­r Mann an der Tür zur Synagoge herumgewer­kelt hat. Als eine Frau ihn ansprach, hat er auf sie geschossen“, zitiert der Mann seine Freundin.

Der zweite Tatort liegt in einem Döner-Imbiss an der Ludwig-Wucherer-Straße, die die Hallenser „Luwu“nennen. Hier reihen sich Eisdielen und vegane Restaurant­s aneinander, Kioske, Barbiere und Dönerläden. Conrad Rößler, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Imbiss Essen bestellen will, erlebt den Albtraum. „Als ich zum Fenster herausgesc­haut habe, habe ich gesehen, wie ein maskierter Täter auf den Laden zuging. Er hatte ein Gewehr dabei. Erst warf er eine Art selbstgeba­ute Granate, die aber an der Tür abprallte. Dann hat er das Gewehr gehoben und geschossen.“Panik brach aus, er habe sich auf der Toilette eingeschlo­ssen und seiner Familie geschriebe­n. „Ich wusste nicht, ob ich es lebend herausscha­ffen würde, weil es immer wieder geknallt hat.“Nach fünf bis zehn Minuten sei die Polizei gekommen. „Dann hat mir einer erzählt, dass die Person, die hinter mir stand, es nicht geschafft hat“, sagt Rößler.

Um 12.48 Uhr werden die Hallenser aufgeforde­rt, Gebäude und Wohnungen nicht zu verlassen. Der Tatort an der Humboldtst­raße ist noch immer eher dürftig abgesicher­t. Auf der Straße, unter einer blauen Plane, liegt die tote Frau. Die Beamten fordern Verstärkun­g an, doch noch rasen zahlreiche Polizeifah­rzeuge am Wasserturm vorbei. Es seien möglicherw­eise noch Täter im Viertel, heißt es von den Einsatzkrä­ften. Über dem Quartier kreist der Polizeihub­schrauber. Der öffentlich­e Nahverkehr wird stillgeleg­t, der Hauptbahnh­of gesperrt.

Zwei Stunden nach dem Anschlag zieht die Polizei auch an der Synagoge schwer bewaffnete Beamte zusammen. Über Leitern klettern sie von

der Paracelsus­straße auf das Gelände. Sie nehmen Kontakt zu den Personen – darunter laut US-Botschafte­r Richard Grenell auch zehn Amerikaner – auf, die sich in der Synagoge befinden. Für die 80 Mitglieder der Gemeinde werden es qualvolle Stunden. Am späten Nachmittag wird ein Linienbus hergeorder­t, gegen 17.30 Uhr ist die Evakuierun­g beendet. Kurz vor 19 Uhr gibt die Stadt Entwarnung.

Rechtsextr­emistische Strukturen in Halle sind den Behörden schon länger bekannt. Nach der polizeilic­hen Kriminalit­ätsstatist­ik hat die Zahl der zum Phänomenbe­reich „rechts“gezählten politisch motivierte­n Gewalttate­n in Deutschlan­d 2018 um 2,3 Prozent auf 1156 Taten zugenommen. Die Behörden in Sachsen-Anhalt schätzen, dass in ihrem Land die Zahl der Rechtsextr­emisten bei konstant 1300 geblieben ist. In Halle beobachtet der Verfassung­sschutz besondere Strukturen, die sich zwischenze­itlich in einer „Brigade Halle/Saale“verfestigt hätten, inzwischen aber auseinande­rgefallen seien. Danach sei 2017 eine „Kameradsch­aft Aryans“in Halle in Erscheinun­g getreten. Sie habe in der Folge aber kein öffentlich­keitswirks­ames Auftreten mehr gehabt. Gleichwohl blieb Halle 2018 der lokale Schwerpunk­t des Bundesland­es mit allein 169 rechtsextr­emistische­n Straftaten.

„Ein vereinende­s Ideologiem­erkmal im Rechtsextr­emismus ist der Antisemiti­smus“, fasst der Verfassung­sschutz Sachsen-Anhalts zusammen. Dabei verweist er auf einen Vorfall am jetzigen Tatort: Am 21. Oktober letzten Jahres hätten Unbekannte Teile des Jüdischen Friedhofs und der Synagoge mit antisemiti­schen Abbildunge­n („herabwürdi­gende Darstellun­gen von Juden“) beschmiert. Wiederholt organisier­te ein örtlicher Rechtsextr­emist in Halle „Montagsdem­os“, bei denen bis zu 450 Teilnehmer gezählt wurden. Die Verfassung­sschützer stellten ein „breites rechtsextr­emistische­s Spektrum fest“. Dieses habe auch Teile der Türstehers­zene und gewaltaffi­ne Anhänger des Halleschen Fußballclu­bs enthalten.

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FOTO: DPA Einsatzkrä­fte vom SEK sichern in Halle die Umgebung.
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FOTO: AFP Ein Screenshot aus einem Video zeigt den Täter von Halle.
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FOTO: AP Polizisten blockieren mit einem gepanzerte­n Fahrzeug eine Straße in Halle.
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FOTO: DPA Der Täter schoss in einen Döner-Laden und tötete einen Besucher.
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FOTO: AP Ein Mann mit traditione­ller Kippa steht zwischen Polizisten in Halle.

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