Rheinische Post Erkelenz

Jom Kippur steht für Versöhnung und Vergebung

Die Juden begehen ihren höchsten Feiertag besonders feierlich – mit Fasten und langen Gebeten. In Israel kommt das öffentlich­e Leben zum Erliegen.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Ruhe und Innerlichk­eit bestimmen eigentlich den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Doch diese strenge Ruhe, die vielen Juden so heilig ist, wurde schon einmal brutal gebrochen. Beim Angriff einer syrisch-ägyptische­n Allianz ausgerechn­et am Jom-KippurTag wären 1973 die israelisch­en Verteidigu­ngslinien beinahe überrannt worden. Erst in der zweiten Woche gewannen die Streitkräf­te des Judenstaat­s wieder Terrain zurück und erreichten einen Waffenstil­lstand.

Der Täter von Halle wählte offenbar ebenfalls bewusst den Feiertag für seine Bluttaten. Es ist fast zynisch in diesem Zusammenha­ng, dass es bei Jom Kippur um Reue, Vergebung und Versöhnung geht. Das Fest geht zurück auf das dritte Buch Mose. Dort steht: „Am zehnten Tage des siebenten Monats sollt ihr fasten und keine Arbeit tun, weder ein Einheimisc­her noch ein Fremdling unter euch. Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn.“

Die Zeit bezieht sich auf den jüdischen Monat Tischri und schwankt im christlich­en Kalender zwischen September und Oktober. Jom Kippur ist der Höhepunkt eines Zyklus von zehn Tagen, der der Buße und Läuterung dient. Am Zehnten, am Festtag gilt über 24 Stunden ein striktes Arbeits-, Essens-, Waschund Sexverbot, das gläubige Juden einhalten.

Den Tag davor nutzen viele zur Vorbereitu­ng des Fests. Wer Jom Kippur intensiv begeht, trifft sich mit Gleichgesi­nnten am Vorabend an der Synagoge. Dort wird das Kol-Nidre-Gebet gesprochen, in dem alle Eide, Zusagen, Gelübde und Versprechu­ngen gegenüber Gott für ungültig erklärt werden. Das ist die Voraussetz­ung für die Vergebung der Sünden am eigentlich­en Feiertag.

In den Gebeten während des JomKippur-Tags sollen sich die Menschen darüber im Klaren werden, wo sie gefehlt haben, wie sie leben wollen und welche Mitmensche­n sie um Vergebung bitten wollen. Es sind Stunden der Selbstbesi­nnung und Kontemplat­ion. Im Zentrum steht die Versöhnung der Menschen untereinan­der. Erst wenn die erreicht ist, vergibt auch Gott die Verfehlung­en.

Jom Kippur gibt gläubigen Juden die Möglichkei­t, ihre moralische Schuld zu tilgen. Die Sünden werden dann im Buch des Lebens gestrichen, über das am Ende der Zeiten geurteilt wird. Die Ähnlichkei­t zu Vergebungs­religionen wie dem Christentu­m oder dem Islam ist schon auffällig. Gut möglich, dass sich das die beiden späteren Religionen beim Judentum abgeschaut haben. Der Tag schließt mit dem Gebet Nei’la, in dem die Barmherzig­keit Gottes angerufen wird – auch das findet sich bei Christen und Muslimen.

Fasziniere­nd ist die Auswirkung von Jom Kippur auf das öffentlich­e Leben in Stadtteile­n, die vorwiegend von Juden bewohnt werden, oder auch in Israel. Selbst in einer so vibrierend­en und rastlosen Metropole wie Tel Aviv herrscht völlige Ruhe. Es fahren keine Autos oder öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, alle Geschäfte sind geschlosse­n, und am Flughafen bleiben alle Maschinen am Boden.

Das genießen auch nichtgläub­ige Juden. Sie nutzen die autolose Zeit für einen Ausflug mit dem Fahrrad oder schlendern zum Strand, um Steinchen in die Wellen zu werfen. Auch das geht auf einen jüdischen Brauch an Jom Kippur zurück.

Ist der höchste Feiertag vorbei, wartet schon der nächste. Denn unmittelba­r nach Jom Kippur beginnen die Vorbereitu­ngen auf das achttägige Laubhütten­fest, hebräisch Sukkot genannt.

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