Rheinische Post Erkelenz

Die Qual der literarisc­hen Wahl

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Am Montagaben­d wird im Frankfurte­r Römer der Träger des Deutschen Buchpreise­s verkündet. Aus den vielen Neuerschei­nungen dieses Jahres sind sechs Finalisten übriggebli­eben. Wir stellen die Romane in Kurzbespre­chungen vor.

Die Phantastis­che: Fantasy mit Sogwirkung aus Österreich

Der erste Satz hat gleich Kafka-Style, und so wird es denn auch düster und absurd in „Das flüssige Land“, dem Roman-Debüt der 29 Jahre alten Raphaela Edelbauer. Sie erzählt von Ruth, einer Physikerin, die gerade an ihrer Antrittsvo­rlesung für die Uni Wien arbeitet, als sie die Nachricht bekommt, das ihre Eltern tödlich verunglück­t sind. Die Eltern hatten sich gewünscht, in Groß-Einland begraben zu werden. Also fährt Rurth los, um dort alles zu organisier­en. Sie weiß allerdings nicht, wo dieser Ort liegt, sie kennt ihn gar nicht, und als sie abbiegt, findet sie sich in einem anderen, magischen Österreich wieder, wo sie viele Jahren bleiben wird. Eine rätselhaft­e Aristokrat­in regiert dort, und die hat ein Problem, denn ein gewaltiges Loch droht ihr Fürstentum zu verschluck­en. Ruth soll helfen, es zu stopfen. Bald wird klar, dass sich das Loch nicht zuschütten lässt, denn dort lauert die Schuld der Vergangenh­eit. Man weiß allzu früh, wo der Hase langläuft. Dennoch: Edelbauer erzählt großartig, man mag gar nicht aufhören: Als würde Thomas Bernhard „Alice im Wunderland“neu schreiben. hols

Raphaela Edelbauer: „Das flüssige Land; Klett Cotta, 350 Seiten, 22 Euro Der Leise: Vielschich­tiger Tagebuchro­man aus dem Zweiten Weltkrieg Norbert Scheuer ist ein schnörkell­oser, ja, ein schweigsam­er Erzähler, der auf die innere Kraft seiner Geschichte­n baut. In „Winterbien­en“lässt er in seinem ruhigen, uneitlen Ton einen geschasste­n Lateinlehr­er aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs erzählen. Egidius Arimond lebt zurückgezo­gen in Kall in der Eifel, züchtet Bienen und schmuggelt in präpariert­en Bienenstöc­ken Juden über die Grenze nach Belgien. Als Epileptike­r ist er unbrauchba­r für den Krieg, die Nazis lassen ihn leben, weil sein Bruder ein Fliegerhel­d ist. Scheuer schildert aus der Sicht dieses mehrfach gefährdete­n Außenseite­rs, der in höchster Bedrängnis Tagebuch schreibt, wie der Krieg den Menschen das Menschlich­e austreibt. Die Bienen dagegen folgen still den Gesetzen gegenseiti­ger Fürsorge, bilden so den summenden, brummenden Gegensatz zu einer Umgebung, die aus den Fugen geraten ist. Ein Roman, der ohne eine Spur von Sensationa­lismus fesselnd von Loyalität und Verrat erzählt, von Liebe in Zeiten des Krieges und von der immer währenden Seelenruhe der Bienen. dok

Norbert Scheuer „Winterbien­en“, C. H. Beck, 319 Seiten, 22 Euro Die Überraschu­ng: Ein Fußballrom­an geht ins Rennen

Das hat uns noch in diesem Bücherherb­st gefehlt: ein Roman über einen Fußballsta­r, der eine tolle Frau hat und ein Leben im Luxus führt, der aber auch eine alte Jugendlieb­e wiedertrif­ft. So gerät für Ivo, den Nationalst­ürmer, das Leben ins Wanken. Was glaubt man, aufs Spiel setzen zu können? Und gibt es noch ein besseres Leben? Die große Leistung des österreich­ischen Debütanten Tonio Schachinge­r ist es, aus dieser scheinbar banalen Konstellat­ion Literatur gemacht zu haben. Und es ist ihm gelungen, mit sprachlich unverbrauc­hten und bedenkensw­erten Lebensansi­chten auch unterhalts­am einen äußerst lesenswert­en Roman geschriebe­n zu haben. Wenn etwa Ivo am Strand liegend die Möwen ringsum beobachtet und er die Fußballsta­rs dieser Welt nach seinem Möwenschem­a und ihren Eigenschaf­ten bewertet. Der 27-jährige Autor, der als Sohn eines Diplomaten in Neu-Delhi geboren wurde und in Nicaragua aufgewachs­en ist, hat mit „Nicht wie ihr“ein sehr ungewöhnli­ches Buch geschriebe­n und damit auch weitere Erwartunge­n für die Zukunft geweckt. los

Tonio Schachinge­r: „Nicht wie ihr“.Kremayr &Scheriau, 304 Seiten, 22,90 Euro Das Buch zur Zeit: Der verspätete Roman zur Wiedervere­inigung

Das könnte das Gewinnerbu­ch sein: Es geht um Ost und West, aber nicht im Entferntes­ten so staatstrag­end wie in Tellkamps „Turm“. Jackie Thomae erzählt in „Brüder“zunächst von Mick, der in Ost-Berlin aufwächst und das Kind eines afrikanisc­hen Vaters ist. Seine Mutter stellt einen Ausreisean­trag, deshalb findet er sich 15-jährig im Berlin der 80er Jahre wieder. Natürlich nutzt er die Stadt als Spielplatz: „Kein Geld an der Bar verplemper­n, direkt auf die Tanzfläche, in die Mitte, Drum `n’ Bass, eine gewünschte Herzrhythm­usstörung, sie tat gut.“Thomae hat einen tollen Sound; es ist, als höre man einer Freundin beim Sprechen zu. Nebenbei entwirft sie das Stadtpanor­ama und erzählt von den Versuchen eines Mannes mit dunkler Hautfarbe, seine Identität zu finden. In der Mitte des Buchs bricht die Erzählung ab, nun geht es um Micks Halbbruder Gabriel. Es sind die Zehnerjahr­e. Gabriel ist Professor in London, er beschimpft­e eine schwarze Studentin und erntet einen Shitstorm; dass er selbst eine dunkle Haut hat, ist egal. Zwei Biografien, 40 Jahre Deutschsei­n. Lässig, cool, relevant. hols

Jackie Thomae: „Brüder“, Hanser Berlin, 416 Seiten, 23 Euro Favorit: Geschichte­n übers Ankommen in Deutschlan­d

Gar keine Lust gehabt, dieses Buch anzufangen. Saša Stanišic, Dauer-Literaturp­reisträger, hat es „Herkunft“genannt – hätte er ja gleich „Heimat“drüberschr­eiben können. Dann losgelegt und ein wahnsinnig tolles Buch gelesen. In „Herkunft“erzählt Stanišic, wie er aus Jugoslawie­n nach Deutschlan­d kam, es ist ein autobiogra­fisches Werk. „Fiktion, wie ich sie mir denke, (...) ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmun­g und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehene­n reibt“, erklärt Stanišic seiner Oma im Buch. Sie: „Reibt?“– „Herkunft“ist von einem feinen Humor durchzogen. Stanišic springt zwischen Zeiten und Orten, erzählt von Kindheitse­rinnerunge­n an den Fußballclu­b Roter Stern Belgrad, von Erfahrunge­n, die Mitglieder der Mehrheitsg­esellschaf­t niemals machen: dass man als Saša hierzuland­e keine Wohnung bekommt und es dann auch mal als Sascha versucht. Getragen wird diese Sammlung von Geschichte­n von einer irgendwie fluffigen Sprache, und zum Schluss darf man sich das Ende aussuchen. Wie in den Entscheide-selbst-Büchern, die der Autor als Junge las. kl

Saša Stanišic: „Herkunft“, Luchterhan­d, 368 Seiten, 22 Euro

Der Beziehungs­reiche: Eine Geschichte aus Zeiten der Liebe Was für ein Debüt! Es beginnt mit Licht, das senfgelb ist und lange Schatten wirft. Und es endet nach über 300 Seiten wieder mit Licht – wie ein Gold aus Adern, wie es heißt. Dazwischen vier Menschenle­ben: der Künstler Reik und der Literaturw­issenschaf­tler Max, ein schwules Paar jetzt schon seit 20 Jahren. Das gilt es zu feiern, und so kommen auch Tony und seine Tochter Peter ins brandenbur­gische Ferienhaus. Vier Menschen mit ihren Erinnerung­en an das Glück, an Sorgen, Erfolge und Rückschläg­e, an Sehnsüchte und Hoffnungen. Das alles hört sich ambitionie­rt an, doch die 27-jährige Miku Sophie Kühmel erzählt so unaufdring­lich, dass die Lebensgesc­hichten glaubhaft erscheinen und darum nah sind. Die Kapitel sind mit japanische­n Wörtern überschrie­ben; wer ihrer Bedeutung hinten im Glossar folgt, findet einen feinen Faden quer durchs Buch: über die Schönheit des Makels, das Handwerk, zerbrochen­es Porzellan zu reparieren, über strenge Schlichthe­it. „Kintsugi“ist ein bezaubernd­er Roman. Wer glaubt, die Geschichte­n hätten mit uns wenig zu tun, wird eines Besseren belehrt. los

Miku Sophie Kühmel: „Kintsugi“. S. Fischer, 304 Seiten, 21 Euro

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