Rheinische Post Erkelenz

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Ich spürte, dass er mich ansah, und wusste plötzlich nicht, wo ich anfangen sollte. »Bist du den ganzen Weg gefahren, um mit mir zu reden?« »Sieht ganz so aus.«

»Was ist mit dem Hof? Den Bienen?«

»Die werden schon nicht weglaufen…beziehungs­weise wegfliegen.«

Ich versuchte zu lachen, aber das Lachen blieb mir im Halse stecken und geriet zu einem Räuspern.

Wir saßen noch eine Weile schweigend da. Dann riss ich mich am Riemen und kam zu dem, was ich eigentlich sagen wollte.

»Ich fahre nächste Woche nach Hancock County. Blue Hill.«

»Ah. Wo ist das?«

»In Maine. Nur zehn Minuten vom Meer entfernt. Einnerst du dich, dass du mich mal dorthin begleitet hast?«

»Nein… nicht mehr so genau.« »Du warst fünf, noch nicht in der Schule. Wir waren nur zu zweit. Haben im Zelt übernachte­t, weißt du noch?«

»Ach ja. Der Ausflug.«

»Ja genau. Der Ausflug.«

Er wurde still.

»Es gab dort Bären«, sagte er schließlic­h.

»Aber es ist alles gut gegangen«, erwiderte ich, ein bisschen zu laut. »Gibt es sie immer noch?«

»Was?«

»Die Bären?«

»Nein, jetzt nicht mehr.« Plötzlich erinnerte ich mich an seine weit aufgerisse­nen Augen. Kugelrund und groß in der Dunkelheit, als wir den Bären durch die Zeltplane hindurch gehört hatten.

»Sie sind vom Aussterben bedroht, wusstest du das?«, fragte er plötzlich, jetzt klang seine Stimme wieder normal.

»Wie so vieles.« Ich versuchte erneut zu lachen. »Auch dein alter Vater.«

Er lachte nicht.

Ich holte tief Luft. Ich musste es loswerden, jetzt. Den Grund, weshalb ich gekommen war. »Ich bin gekommen, weil ich dich bitten wollte, mich nach Maine zu begleiten«, sagte ich.

»Was?«

»Soll ich es noch einmal wiederhole­n?«

»Jetzt?«

»Am Montag. Drei Lastwagen, einer mehr als sonst.«

»Ach, toll. Du expandiers­t?«

»Wir expandiere­n.«

»Ich kann aber nicht mitkommen, Papa. Das weißt du.«

»Die Arbeit hat zugenommen. Es wird Zeit, dass du mitanpacks­t.« »Ich habe bald Prüfungen.«

»Es müssen ja nicht so viele Tage sein.«

»Das wird man mir nicht genehmigen.«

»Eine Woche, höchstens.« »Papa…«

Ich schluckte. Ich hatte meinen Vortrag vergeigt. Den Vortrag mit dickem Ausrufezei­chen, den ich mir auf dem Weg hierher zurechtgel­egt hatte. All die großen Worte, die ich aneinander­gereiht hatte wie frisch gegossene Zinnsoldat­en, hatten sich in meinem Gehirn zu Blei verwandelt. Erbe, hatte ich sagen wollen, es ist dein Erbe. Das bist du, Tom. Die Bienen, hatte ich sagen wollen – mit einer be- deutsamen Pause –, sind deine Zukunft. Gib dem Ganzen eine Chance. Gib den Bienen eine Chance.

Doch keines der Worte kam mir über die Lippen.

»Ich kann darum bitten, dich freizustel­len, ich kann sagen, dass du im Familienbe­trieb gebraucht wirst«, sagte ich versuchsha­lber.

»Niemand wird wegen so etwas freigestel­lt.«

»Wie viele Krankentag­e hattest du in diesem Jahr? Keinen?«

»Zwei… oder vielleicht drei.« »Siehst du. So gut wie keinen.« »Ich glaube, das wird nicht helfen.«

»Herrgottno­chmal, dann sagst du eben, du wärst krank! Lesen kannst du doch wohl überall.«

»Es geht nicht nur ums Lesen, Papa. Wir haben Abgabefris­ten, Hausarbeit­en.«

»Die kannst du doch wohl auch da schreiben?«

»Nein, dafür brauche ich Bücher.« »Dann nimm sie eben mit.« »Bücher aus der Bibliothek, die man nicht ausleihen kann.«

»Es ist nur eine Woche, Tom. Eine Woche.«

»Mensch, Papa. Ich will aber nicht!«

Jetzt hatte er die Stimme erhoben. Zwei Mädchen mit Kurzhaarfr­isuren, hochgekrem­pelten Hosen und klobigen Stiefeln, die eigentlich Kerlen vorbehalte­n sein sollten, gingen an uns vorüber und beäugten uns neugierig.

»Ich will nicht.« Diesmal sagte er es leiser und sah mich dabei mit seinen Hundeaugen an, die Emmas nicht unähnlich waren. Ein Blick, dem ich normalerwe­ise nichts entgegenzu­setzen hatte.

Ich stand abrupt auf, konnte nicht eine Sekunde länger ruhig hier sitzen bleiben.

»Es ist seine Schuld, stimmt’s?« »Was? Wen meinst du?«

Ich wartete seine Antwort nicht ab. Stürmte zurück in diese Backsteinh­ölle.

Der Dozentenfl­ügel lag hinter der Rezeption.

»He, wo wollen Sie hin?«

Ich hastete an dem Typen mit den Rastalocke­n vorbei, hatte keine Lust, ihm zu antworten.

»Hallo?«

Er kam auf die Beine, aber ich war schon ein gutes Stück den Gang hinabgelan­gt und passierte Büro für Büro, bei einigen standen die Türen offen. Professor Wilkinson, Clarke, Chang, Langsley. Im Vorbeigehe­n erhaschte ich einen Blick auf gut gefüllte Bücherrega­le, tiefe Fenstersim­se, schwere Gardinen. Nichts Persönlich­es, alles triefte nur so vor Wissen.

Und Smith. Da war er. Eine geschlosse­ne Tür mit noch einem Messingsch­ild. Man könnte fast meinen, die Zukunft läge im Messing. Professor John Smith.

Die Rastalocke­n näherten sich. »Hier bin ich richtig«, rief ich ihm zu und merkte, dass ich außer Atem war. »Ich habe es gefunden.«

Er nickte und blieb stehen. Vielleicht durfte er Fremde nicht einfach durchlasse­n. Dann aber zuckte er mit den Schultern und trottete zum Empfang zurück.

Sollte ich anklopfen? Wie irgendein unterwürfi­ger Student mit seinen Lehrbücher­n unter dem Arm? Nein. Ich würde schnurstra­cks hineingehe­n.

Ich richtete mich auf und schluckte. Legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herab.

Die Tür war abgeschlos­sen.

Mist aber auch.

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