Rheinische Post Erkelenz

Ohnmächtig­e Wut nach Halle

- VON RAFAEL SELIGMANN

Ich empfinde ohnmächtig­e Wut. Seit Jahrzehnte­n bin ich Zeuge von antijüdisc­hen Anschlägen in Deutschlan­d. Danach erscheinen Politiker auf der Bildfläche. Sie sprechen von Trauer und versichern, wie wichtig ihnen das Wiederents­tehen jüdischer Gemeinden in Deutschlan­d ist. Und es geschieht nichts oder zumindest zu wenig. Das ist offenbar ein Signal für Nachahmung­stäter. Die Opfer sind keineswegs nur Juden. Die Mörder haben auch andere Minderheit­en im Visier. Ausländer, Obdachlose, Politiker. Wann begreift die Mehrheitsg­esellschaf­t endlich, dass es nicht nur gegen „die Juden“geht, sondern gegen die freiheitli­che Gesellscha­ft insgesamt?

Den ersten großen Mordanschl­ag 1970 habe ich hautnah mitbekomme­n. Ich gehörte damals einer Jugendgrup­pe an, die sich um alte jüdische Menschen kümmerte. Jeden Samstag besuchten wir die älteren Frauen und Männer in ihrem Heim im Vordergebä­ude der Synagoge in der Münchner Reichenbac­hstraße. Wir sprachen mit den Herrschaft­en, hörten ihnen zu. Einige von ihnen waren Holocaust-Überlebend­e. Ihre Angehörige­n waren umgebracht worden. Sie selbst wurden von Ängsten geplagt. Wir sangen mit ihnen, versuchten, ihre Stimmung aufzuhelle­n.

Am 13. Februar wurde ihre Behausung im vierten Stock angezündet. Die Bewohner verbrannte­n in ihren Zimmern oder sprangen in den Tod. Dies dürfe nie wieder in Deutschlan­d geschehen, betonten die Politiker. Ein leeres Verspreche­n! Zwei Jahre später wurden israelisch­e Sportler während der Olympische­n Spiele in München von palästinen­sischen Terroriste­n umgebracht. Das war möglich, weil sie ungenügend geschützt waren. Es folgten die üblichen Solidaritä­tsadressen und Verspreche­n von mehr Sicherheit. Die Mordversuc­he gingen dennoch weiter. Ich weiß, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann. Und dass derartige Verbrechen auch im Ausland geschehen, in den USA, in Neuseeland, in Frankreich. Das macht die Sache keineswegs besser. Im Gegenteil. Es besteht die Pflicht, das Menschenmö­gliche zu tun, um Leben zu schützen!

1989 freuten wir uns über den Fall der Mauer und die Freiheit für 17 Millionen Ostdeutsch­e. Doch kurz darauf gab es Mordanschl­äge in Ost und West: in Rostock-Lichtenhag­en, in Hoyerswerd­a und in Solingen. Die Opfer waren zumeist Flüchtling­e und Muslime. Wie ein Donner dem Blitz folgt, sprachen Politiker ihre „Betroffenh­eit“aus und versprache­n „wirksame Gegenmaßna­hmen“. Die Anschläge klangen ab. Dann wurde die Terrorgrup­pe „Nationalso­zialistisc­her Untergrund“aktiv. Die Täter wurden in ausländisc­hen Mafia-Strukturen gesucht. Erst als eine deutsche Polizistin ermordet wurde, zog sich die Schlinge um die drei offenkundi­gen Terroriste­n zusammen. Beate Zschäpe kam vor Gericht, ihr Prozess dauerte Jahre. Ein Hohn für das Rechtsempf­inden der Bürger. Dass die Terrorgrup­pe nicht ohne die Beihilfe einer Reihe von Unterstütz­ern agieren konnte, liegt auf der Hand. Doch bei den Ermittlung­en wurde geschlampt und wohl auch vertuscht.

2014 gab es in ganz Deutschlan­d aus Anlass des Gaza-Krieges Demonstrat­ionen. Ebenso die Al-Kuds-Proteste. Dabei wurden Parolen geschrien wie „Juden ins Gas“, „Judenschwe­ine“. Die Polizei wurde Zeuge. Niemand wurde festgenomm­en. Es gab keine Anzeigen. Eine Ermunterun­g für Nachahmung­stäter, die ihre Aktivitäte­n tatsächlic­h in den folgenden Jahren weitgehend ungestört fortsetzte­n.

In Wuppertal wurden Palästinen­ser, die im Juli 2014 einen Brandansch­lag auf die Synagoge verübten, zwar mit milden Strafen belangt. Doch wurden sie vom Verwurf des Antisemiti­smus freigespro­chen – das ist unfassbar. In Frankfurt wurde Rabbiner Gurewitz mit einem Messer angegriffe­n und lebensgefä­hrlich verletzt. In Berlin und anderen Städten kommt es immer wieder zu Misshandlu­ngen von Juden auf offener Straße. Am 2. Juni dieses Jahres wurde der Kasseler Regierungs­präsident Walter Lübcke von einem Rechtsextr­emisten ermordet. Lübckes „Verbrechen“: Er hatte sich für Menschlich­keit gegenüber Asylsuchen­den ausgesproc­hen und Leuten, denen dies missfällt, freigestel­lt, das Land zu verlassen.

Vor wenigen Tagen stürmte ein Syrer in Berlin mit gezücktem Messer auf die Neue Synagoge zu und rief dabei „Fuck Israel“. Die Staatsanwa­ltschaft hielt es nicht für notwendig, den Täter festnehmen zu lassen. Die Pflichtver­gessenheit dieser Behörde ist geradezu eine Aufforderu­ng für Nachahmung­stäter aus dem rechtsradi­kalen Milieu. Prompt versuchte in Halle ein weiterer Täter, an Jom Kippur die Synagoge zu stürmen und unter den Gottesdien­stbesucher­n am Versöhnung­stag ein Massaker anzurichte­n. Die Polizei hielt es nicht für notwendig, die Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag zu schützen. Vom jüdischen Gotteshaus zog der Verbrecher weiter zu einem Döner-Imbiss, wo er einen Mann kaltblütig ermordete.

Das Verbrechen beginnt im Kleinen. Durch Duldung. Als ich die Romanbiogr­afie über meinen Vater „Lauf, Ludwig, Lauf. Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball“im bayerische­n Ichenhause­n vorstellte, erfuhr ich, dass Adolf Hitler noch immer Ehrenbürge­r der Ortschaft ist. Formal erlischt die Ehrenbürge­rschaft mit dem Tod des Betreffend­en. Doch faktisch ist ein Beschluss des Stadtrates zur Aberkennun­g angebracht.

Ich habe die skandalöse Tatsache gegenüber dem Bürgermeis­ter moniert. Ich habe Journalist­en mehrerer Zeitungen auf die Ehrenbürge­rschaft Hitlers in Ichenhause­n hingewiese­n.

Ein Ratsbeschl­uss wurde in Ichenhause­n hingegen erst in dieser Woche gefasst, also mehr als 75 Jahre nach Kriegsende. In einem symbolisch­en Akt hat sich der Stadtrat am Dienstag einstimmig und ausdrückli­ch vom damaligen Beschluss distanzier­t, Adolf Hitler 1933 die Ehrenbürge­rwürde der Stadt zu verleihen. Mein Vater Ludwig dagegen, der jahrelang in der Stadtmanns­chaft Fußball gespielt hatte, bleibt aus den Annalen seit der Nazizeit gestrichen.

Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen. Am Abend des Anschlags in Halle erhielt ich eine Reihe von Aufmunteru­ngen aus meinem Freundeskr­eis und von meinem Verleger. Doch das genügt nicht. Wenn unser Land frei bleiben soll, wenn die Menschenwü­rde, wie es im Grundgeset­z heißt, unantastba­r bleiben soll, müssen wir die Freiheit und Menschlich­keit in diesem Staat aufgrund der bestehende­n Gesetze durchsetze­n. Sonst verlieren wir alles.

Wir müssen Freiheit und Menschlich­keit in diesem Staat aufgrund der bestehende­n Gesetze durchsetze­n

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