Ohnmächtige Wut nach Halle
Ich empfinde ohnmächtige Wut. Seit Jahrzehnten bin ich Zeuge von antijüdischen Anschlägen in Deutschland. Danach erscheinen Politiker auf der Bildfläche. Sie sprechen von Trauer und versichern, wie wichtig ihnen das Wiederentstehen jüdischer Gemeinden in Deutschland ist. Und es geschieht nichts oder zumindest zu wenig. Das ist offenbar ein Signal für Nachahmungstäter. Die Opfer sind keineswegs nur Juden. Die Mörder haben auch andere Minderheiten im Visier. Ausländer, Obdachlose, Politiker. Wann begreift die Mehrheitsgesellschaft endlich, dass es nicht nur gegen „die Juden“geht, sondern gegen die freiheitliche Gesellschaft insgesamt?
Den ersten großen Mordanschlag 1970 habe ich hautnah mitbekommen. Ich gehörte damals einer Jugendgruppe an, die sich um alte jüdische Menschen kümmerte. Jeden Samstag besuchten wir die älteren Frauen und Männer in ihrem Heim im Vordergebäude der Synagoge in der Münchner Reichenbachstraße. Wir sprachen mit den Herrschaften, hörten ihnen zu. Einige von ihnen waren Holocaust-Überlebende. Ihre Angehörigen waren umgebracht worden. Sie selbst wurden von Ängsten geplagt. Wir sangen mit ihnen, versuchten, ihre Stimmung aufzuhellen.
Am 13. Februar wurde ihre Behausung im vierten Stock angezündet. Die Bewohner verbrannten in ihren Zimmern oder sprangen in den Tod. Dies dürfe nie wieder in Deutschland geschehen, betonten die Politiker. Ein leeres Versprechen! Zwei Jahre später wurden israelische Sportler während der Olympischen Spiele in München von palästinensischen Terroristen umgebracht. Das war möglich, weil sie ungenügend geschützt waren. Es folgten die üblichen Solidaritätsadressen und Versprechen von mehr Sicherheit. Die Mordversuche gingen dennoch weiter. Ich weiß, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann. Und dass derartige Verbrechen auch im Ausland geschehen, in den USA, in Neuseeland, in Frankreich. Das macht die Sache keineswegs besser. Im Gegenteil. Es besteht die Pflicht, das Menschenmögliche zu tun, um Leben zu schützen!
1989 freuten wir uns über den Fall der Mauer und die Freiheit für 17 Millionen Ostdeutsche. Doch kurz darauf gab es Mordanschläge in Ost und West: in Rostock-Lichtenhagen, in Hoyerswerda und in Solingen. Die Opfer waren zumeist Flüchtlinge und Muslime. Wie ein Donner dem Blitz folgt, sprachen Politiker ihre „Betroffenheit“aus und versprachen „wirksame Gegenmaßnahmen“. Die Anschläge klangen ab. Dann wurde die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“aktiv. Die Täter wurden in ausländischen Mafia-Strukturen gesucht. Erst als eine deutsche Polizistin ermordet wurde, zog sich die Schlinge um die drei offenkundigen Terroristen zusammen. Beate Zschäpe kam vor Gericht, ihr Prozess dauerte Jahre. Ein Hohn für das Rechtsempfinden der Bürger. Dass die Terrorgruppe nicht ohne die Beihilfe einer Reihe von Unterstützern agieren konnte, liegt auf der Hand. Doch bei den Ermittlungen wurde geschlampt und wohl auch vertuscht.
2014 gab es in ganz Deutschland aus Anlass des Gaza-Krieges Demonstrationen. Ebenso die Al-Kuds-Proteste. Dabei wurden Parolen geschrien wie „Juden ins Gas“, „Judenschweine“. Die Polizei wurde Zeuge. Niemand wurde festgenommen. Es gab keine Anzeigen. Eine Ermunterung für Nachahmungstäter, die ihre Aktivitäten tatsächlich in den folgenden Jahren weitgehend ungestört fortsetzten.
In Wuppertal wurden Palästinenser, die im Juli 2014 einen Brandanschlag auf die Synagoge verübten, zwar mit milden Strafen belangt. Doch wurden sie vom Verwurf des Antisemitismus freigesprochen – das ist unfassbar. In Frankfurt wurde Rabbiner Gurewitz mit einem Messer angegriffen und lebensgefährlich verletzt. In Berlin und anderen Städten kommt es immer wieder zu Misshandlungen von Juden auf offener Straße. Am 2. Juni dieses Jahres wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten ermordet. Lübckes „Verbrechen“: Er hatte sich für Menschlichkeit gegenüber Asylsuchenden ausgesprochen und Leuten, denen dies missfällt, freigestellt, das Land zu verlassen.
Vor wenigen Tagen stürmte ein Syrer in Berlin mit gezücktem Messer auf die Neue Synagoge zu und rief dabei „Fuck Israel“. Die Staatsanwaltschaft hielt es nicht für notwendig, den Täter festnehmen zu lassen. Die Pflichtvergessenheit dieser Behörde ist geradezu eine Aufforderung für Nachahmungstäter aus dem rechtsradikalen Milieu. Prompt versuchte in Halle ein weiterer Täter, an Jom Kippur die Synagoge zu stürmen und unter den Gottesdienstbesuchern am Versöhnungstag ein Massaker anzurichten. Die Polizei hielt es nicht für notwendig, die Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag zu schützen. Vom jüdischen Gotteshaus zog der Verbrecher weiter zu einem Döner-Imbiss, wo er einen Mann kaltblütig ermordete.
Das Verbrechen beginnt im Kleinen. Durch Duldung. Als ich die Romanbiografie über meinen Vater „Lauf, Ludwig, Lauf. Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball“im bayerischen Ichenhausen vorstellte, erfuhr ich, dass Adolf Hitler noch immer Ehrenbürger der Ortschaft ist. Formal erlischt die Ehrenbürgerschaft mit dem Tod des Betreffenden. Doch faktisch ist ein Beschluss des Stadtrates zur Aberkennung angebracht.
Ich habe die skandalöse Tatsache gegenüber dem Bürgermeister moniert. Ich habe Journalisten mehrerer Zeitungen auf die Ehrenbürgerschaft Hitlers in Ichenhausen hingewiesen.
Ein Ratsbeschluss wurde in Ichenhausen hingegen erst in dieser Woche gefasst, also mehr als 75 Jahre nach Kriegsende. In einem symbolischen Akt hat sich der Stadtrat am Dienstag einstimmig und ausdrücklich vom damaligen Beschluss distanziert, Adolf Hitler 1933 die Ehrenbürgerwürde der Stadt zu verleihen. Mein Vater Ludwig dagegen, der jahrelang in der Stadtmannschaft Fußball gespielt hatte, bleibt aus den Annalen seit der Nazizeit gestrichen.
Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen. Am Abend des Anschlags in Halle erhielt ich eine Reihe von Aufmunterungen aus meinem Freundeskreis und von meinem Verleger. Doch das genügt nicht. Wenn unser Land frei bleiben soll, wenn die Menschenwürde, wie es im Grundgesetz heißt, unantastbar bleiben soll, müssen wir die Freiheit und Menschlichkeit in diesem Staat aufgrund der bestehenden Gesetze durchsetzen. Sonst verlieren wir alles.
Wir müssen Freiheit und Menschlichkeit in diesem Staat aufgrund der bestehenden Gesetze durchsetzen