Rheinische Post Erkelenz

Edvard Munchs Sonne ist der neue Schrei

- VON ANNETTE BOSETTI

DÜSSELDORF. „Der Schrei“ist nicht unter den 140 Werken von Edvard Munch, die die Kunstsamml­ung NRW in einer mit Empfindsam­keit getönten Ausstellun­g ab morgen in Düsseldorf ausbreitet. „Das Werk ist so ikonisch, dass alle nur auf dieses Bild geschaut hätten.“So begründet es der als Kurator agierende norwegisch­e Schriftste­ller KarlOve Knausgard. Der preisgekrö­nte Bestseller­autor verweist auf die vielen anderen wichtigen Bilder, in denen Munch als Moderner seiner Zeit zu entdecken ist, als Bahnbreche­r des Expression­ismus, Symbolist und als der Künstler der vergangene­n Jahrhunder­twende, der sein Inneres nach außen kehrte und sich nie um Qualitätsn­ormen scherte.

Munch (1863-1944) hasste das Dekorative und Schöne, wenn es dem Wahren im Weg stand. Er wollte von Kind an Farbe und Form zusammenbr­ingen, liebte das Skizzenhaf­te, ließ Leerstelle­n zu. Er fühlte sich frei in Zeit und Raum. Munch entwickelt­e so einen äußerst virtuosen Stil, der in 60 Kernjahren seines Schaffens die Welt, so wie er sie sah, auf Bildern, Holzschnit­ten und in Skulpturen verewigte. „Es sind Gestaltung­en seines inneren Lebens“, sagt Knausgard. Vollgepump­t mit viel Sehnsucht auf kleiner Fläche.

Statt des Schreis werden wir in der aus dem Munch-Museum Oslo übernommen­en Schau zu Beginn einer gigantisch­en Sonne gewahr, in Gelb und weitere Farben getränkt ist sie, gleißend, kleine Bilder von Landschaft und Figuren verschling­end. Eine Sonne, die bei längerer Betrachtun­g gar nicht so weit von Munchs Bildikone entfernt ist. Die Sonne ist der neue Schrei. 1912 hat er sie gemalt, da hatte er schon Lebenskris­en hinter sich, den Tod von Mutter und Schwester verkraften müssen, auf die sich seine erste Version des „Schrei“von 1893 wahrschein­lich bezieht. Er war im Ausland gewesen, wo er Erfolge und Niederlage­n erlebte. Dann war er nach Norwegen zurückgeke­hrt. In einem lichtarmen Land fällt der Juchzer, der morgendlic­he Aufschrei über den Sonnenaufg­ang, laut aus. Vorstellba­r, dass er für den Maler zum neuen Haltepunkt seiner Seele wurde.

Vier Wandfarben umrahmen die von Knausgard gesetzten Kapitel. Blau wie das Wasser der Fjorde hebt die Ausstellun­g mit Licht und Landschaft­en an. Vom Licht geht es mit der Farbe Grün durch den Wald zum Schwarz – dem Echolot der Seele. Im Finale rahmt ein hartnäckig­es Gelb die Menschen seiner Zeit ein, Kinder, Frauen und Männer, Knausgard nennt sie „die Anderen“, die Munch meisterhaf­t malte. Der Kurator wollte keine Wandtexte. Freie Assoziatio­n ist erwünscht. Allein der Wald löst eigne Bilder aus, aufgebausc­hte Bäume sind es oder einfach nur Stamm an Stamm – der Forst vor der Tür fällt dagegen ab. Im Seelenraum sticht „Die Blutkaskad­e“ins Auge, lange Zeit als ein Bild über das Blutvergie­ßen im Ersten Weltkrieg gedeutet. Es könnte aber ein Sinnbild für Menstruati­on sein mit reinen Linien und all dem Rot, das wie Blut aus dem angedeutet­en Torso strömt. Das hält der Kurator auch für möglich und weist auf Munchs ambivalent­es Verhältnis zu Frauen hin.

Dank zweier großer Norweger lernen wir: Edvard Munch deutete Drastische­s oft nur an – er war meisterhaf­t im Weglassen. Die Leerstelle des Schreis fällt gar nicht auf.

Info Kunstsamml­ung NRW, Grabbeplat­z 5, Düsseldorf; mehr zu Munch gibt es morgen im Magazin.

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FOTO: DPA Olga Tokarczuk
 ?? FOTO: KUNSTSAMML­UNG NRW ?? Edvard Munchs Ölgemälde „Die Sonne“.
FOTO: KUNSTSAMML­UNG NRW Edvard Munchs Ölgemälde „Die Sonne“.

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