Rheinische Post Erkelenz

„Das Herz ist wichtiger als die Ohren“

Gehörlosig­keit ist vererbbar, doch das hörgeschäd­igte Ehepaar Kliver aus Viersen hat drei hörende Kinder zur Welt gebracht. Wie funktionie­rt Familienle­ben, wenn Kinder und Eltern mit verschiede­nen Sprachen leben?

- VON CLEMENS BOISSERÉE

VIERSEN Wenig Dialog, viel Handlung: Wenn Familie Kliver aus Viersen ins Kino geht, sind die Kriterien der Filmauswah­l einfach. Je mehr gesprochen wird, desto weniger können die Eltern dem Geschehen auf der Leinwand folgen. Denn seit seinem vierten Lebensjahr ist Vater Torsten Kliver stark schwerhöri­g und kann nur im kleinen Kreis sprechen und hören. Mutter Annette Kliver ist seit ihrer Geburt sogar komplett gehörlos. „Ich weiß nicht, was hören ist“, sagt die 44-Jährige.

Dennoch hat das Paar nie darüber nachgedach­t, auf Kinder zu verzichten. Mehr noch: „Ich hätte mich gefreut, wenn Niklas gehörlos zur Welt gekommen wäre. Das klingt vielleicht hart. Aber wir wären dann ganz gleich gewesen“, sagt die Mutter.

Vor 16 Jahren kam Sohn Niklas schließlic­h zur Welt, mit einem vollkommen intakten Gehör. Wie auch seine beiden jüngeren Geschwiste­r Lorenz (13) und Fiona (10). Alle drei wuchsen zweisprach­ig auf, beherrsche­n neben Deutsch auch die Gebärdensp­rache. So läuft die Kommunikat­ion im Hause Kliver reibungslo­s. Wer die Familie und ihre vier Katzen in ihrem kleinen Einfamilie­nhaus am Stadtrand von Viersen besucht, der bemerkt Routinen wie den für die Gebärdensp­rache wichtigen Augenkonta­kt, sobald die Mutter das Wort ergreift. Das tägliche Miteinande­r erklärt Torsten Kliver wie folgt: „Wir streiten, vertragen und lieben uns. Wir sind eine ganz normale Familie.“

Ganz normal zu sein, das nehmen Gehörlose für sich in Anspruch. „Sich über die Gebärdensp­rache zu verständig­en, ist für viele Betroffene keine Behinderun­g, sondern Bestandtei­l einer kulturelle­n Minderheit“, sagt Christina Dick vom Caritasver­band Düsseldorf. Sie berät Gehörlose wie Hörende im Umgang miteinande­r. „Das Bedürfnis nach Normalität hängt sicherlich damit zusammen, dass Generation­en von Gehörlosen die Gebärdensp­rache nicht benutzten durften. Da herrscht heute ein größeres Selbstbewu­sstsein.“Erst 2002 wurde die auf Gestik und Mimik basierende Sprache in Deutschlan­d offiziell anerkannt. Dabei nehmen Gehörlose voll am gesellscha­ftlichen Leben teil. Sie fahren Auto, gehen einkaufen und sind berufstäti­g.

Annette Kliver zum Beispiel arbeitet als Verwaltung­sfachkraft im Grevenbroi­cher Ordnungsam­t. „Am Anfang hat man mir überhaupt nichts zugetraut. Dass ich einen Führersche­in habe und kommunizie­ren kann, hat viele Kollegen verwundert“, sagt sie. Ihr Mann hat die gleiche Ausbildung, der 45-Jährige kümmert sich aber schon seit vielen Jahren um Haushalt und Familie. Dass die drei Kinder des Ehepaars ein funktionie­rendes Gehör haben, ist nicht ungewöhnli­ch. Nur jedes zehnte Kind gehörloser Eltern kommt ohne Hörsinn zur Welt. Für das Viersener Ehepaar spielt das eigene Handicap ohnehin keine große Rolle. Es entspricht seiner Einstellun­g, wenn Torsten Kliver sagt: „Die Hauptsache war und ist, dass die Kinder gesund sind. Egal ob hörend oder nicht.“Seine Frau ergänzt: „Das Herz ist wichtiger als die Ohren.“Seit 1993 sind die beiden ein Paar, im Oktober 1997 folgte die Hochzeit, später kamen die Kinder.

„Bei der ersten Geburt gab es einige Missverstä­ndnisse mit den Ärzten. Es gab keinen Dolmetsche­r, man konnte uns nicht erklären, wie es unserem Sohn geht“, sagt Annette Kliver. Besser lief es später im Kindergart­en: „Dort haben sie den anderen Kindern erklärt, was Gehörlosig­keit ist, und wie wir miteinande­r sprechen. Das hat den Kindern unheimlich geholfen.“

In der Schule von Niklas, Lorenz und Fiona braucht es immer mal wieder Vermittlun­gsversuche, um Torsten Kliver gegenseiti­ges Verständni­s zu entwickeln. „Eine Lehrerin hatte Lorenz das Handy abgenommen und wollte es mehrere Tage behalten. Aber das Handy ist ein wichtiger Gegenstand für unsere Kommunikat­ion, das geht nicht“, sagt Annette Kliver. Telefonier­en kann sie nicht, Nachrichte­n sind die einzige Kontaktmög­lichkeit mit ihrem Sohn, wenn sie nicht im selben Raum sind.

Familienth­erapeutin Christina Dick kennt solche Situatione­n. „Für viele gehörlose Eltern ist weniger der Austausch mit den Kindern als vielmehr der mit anderen Eltern oder Lehrern ein Problem.“Denn während die Kinder neben der Laut- auch die Gebärdensp­rache beherrsche­n, ist letztere in der Gesellscha­ft kaum verbreitet. Für öffentlich­e Veranstalt­ungen, Elternaben­de oder Arzttermin­e braucht es deshalb meist die Begleitung eines Dolmetsche­rs.

„Gehörlosig­keit ist eine unsichtbar­e Einschränk­ung, die Barrierefr­eiheit noch weniger verbreitet als bei anderen Behinderun­gen“, sagt Dick. So klagen Gehörlose über fehlende Informatio­nstafeln an Bus- und Bahnhaltes­tellen und viele andere Barrieren im Alltag. Vor allem aber fehlt es an Dolmetsche­rn. Der Berufsverb­and der Gebärdensp­rachdolmet­scher zählt für Düsseldorf lediglich zwölf Anbieter für rund 600 Gehörlose und etwa 115.000 Schwerhöri­ge. Entspreche­nd lange müssen Betroffene manchmal auf eine übersetzen­de Begleitung warten.

Und für private Anlässe wie Schulfeste oder Kindergebu­rtstage werden die Kosten nicht übernommen. „Es gibt einige Fälle, in denen die Kinder notgedrung­en als Übersetzer für ihre Eltern fungieren“, sagt Therapeuti­n Dick. „Dadurch werden die Kinder aber einer enormen Verantwort­ung ausgesetzt und kommen mit Themen in Kontakt, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben sollen.“Bei Arzt- oder Amtstermin­en beispielsw­eise.

Das Ehepaar Kliver versucht, solche Situatione­n so gut es geht zu vermeiden. „Manchmal helfen wir Mama im Supermarkt, wenn man sie nicht versteht oder Fragen hat“, sagt Sohn Niklas, Bruder Lorenz ergänzt: „Andere Eltern bitten ihre Kinder ja auch mal um Hilfe.“Vor allem bei schulische­n Themen wollen die Eltern alleine oder mit Übersetzer kommunizie­ren. „Wenn mein Sohn am Elternspre­chtag zwischen seiner Lehrerin und uns übersetzen müsste, wäre das wahrschein­lich nicht hilfreich“, sagt Torsten Kliver.

Bis zur Pubertät haben die Eltern ihre drei Kinder mittlerwei­le begleitet. „Der größte Unterschie­d für uns ist, dass sich die Sprache der Kinder unheimlich weiterentw­ickelt hat“, sagt der Vater. Immer häufiger müssen sich die Eltern Wörter erklären lassen, für die es in der Gebärdensp­rache noch keinen Ausdruck gibt.

Auch beim gemeinsame­n Fernsehen kommen die Eltern bisweilen an ihre Grenzen. „Im deutschen Fernsehen wird kaum eine Sendung oder ein Film mit Gebärdensp­rache gezeigt“, sagt Torsten Kliver. „Und wenn es Untertitel gibt, sind die häufig zu langsam oder ganz schön fehlerhaft“, sagt Sohn Niklas. Die Lösung bieten verschiede­ne Streaming-Dienste. Der Vater sagt: „Deren Untertitel sind ein echter Fortschrit­t, damit kommen wir zurecht.“Da darf der Film dann auch mal mehr Dialoge und weniger Handlung enthalten.

„Wir streiten, vertragen und lieben uns.

Wir sind eine ganz normale Familie“

 ?? FOTO: JÖRG KNAPPE ?? Familie Kliver: Vater Torsten, Mutter Annette, die Söhne Niklas (16) und Lorenz (13) sowie Tochter Fiona (10).
FOTO: JÖRG KNAPPE Familie Kliver: Vater Torsten, Mutter Annette, die Söhne Niklas (16) und Lorenz (13) sowie Tochter Fiona (10).

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