Rheinische Post Erkelenz

Die großen Themen in Echtzeit

Der norwegisch­e Bestseller­autor Jostein Gaarder („Sofies Welt“) stellt bei der Frankfurte­r Buchmesse seinen neuen Philosophi­e-Roman vor. Angereist ist der 67-Jährige mit dem Zug. Kronprinze­ssin Mette-Marit war auch an Bord.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

FRANKFURT Fürstliche­r dürfte noch kein Schriftste­ller auf der Messe empfangen worden sein als Jostein Gaarder. Mit Flaniertep­pich am Bahnsteig, fähnchensc­hwingenden Kindern, mit Musik und 200 Schaulusti­gen drumherum. Um ehrlich zu sein: Natürlich durfte Gaarder – der seit „Sofies Welt“als berühmtest­er Philosophi­e-Erklärer gilt – Nutznießer seiner prominente­n Mitreisend­en sein. Also der norwegisch­en Kronprinze­ssin Mette-Marit, die mit einem „Literaturz­ug“nach Frankfurt kam und die Gaarder auf der gemeinsame­n Reise quer durch Deutschlan­d als „wirklich gute Leserin“schätzen lernte.

Zunächst sei er skeptisch gegenüber der Aktion gewesen und befürchtet­e allzu viel Marketing dahinter; doch die Bücher-hungrigen Kinder an Bord zerstreute­n alle Zweifel. Und dann habe er auf der Fahrt entlang des Rheins auch noch die Loreley entdeckt und den Mitreisend­en sofort bekundet, wie traurig er gerade sei. „Aber keiner wusste, was ich meinte.“

Die literarisc­h stimuliert­e Traurigkei­t hat Grenzen. Und so treffen wir einen gutgelaunt­en Gaarder in der Lobby des Frankfurte­r Interconti­nental: Norwegen ist Gastland der Messe, sein neuer Roman „Genau richtig“wird gefeiert, und am Abend wird er daraus im Schauspiel­haus vorlesen. Ein philosophi­scher Roman über alles, was wichtig ist: die Liebe, das Leben, der Tod. Es geht um Albert, der die Diagnose ALS bekommt und damit die Prognose, noch etwa ein Jahr leben zu können. Und der sich sofort in die kleine Hütte verzieht, in der seine Lebenslieb­e mit Eirin ihren Anfang genommen hatte. Albert schreibt ins Hüttenbuch sein Leben auf, beichtet eine Affäre, denkt an die Kinder und fasst den Entschluss, am nächsten Morgen in den See gleich vor der Hütte zu gehen und seinem Leben ein Ende zu setzen. Allein. Denn Eirin weilt auf einem Symposium geradewegs am anderen Ende der Welt.

Was ist dieses Leben wert? Alles Mist, alles ungerecht und zum Verzweifel­n? Der Leser liest, während Albert schreibt, praktisch in Echtzeit mit, kreist mit ihm um all diese Themen. Das kann Gaarder grandios: die ganz großen Themen so klein und greifbar zu machen, das sie jedem von uns auf die Pelle rücken. Auch ohne Hütte und ohne Krankheit sind Alberts Fragen unsere Fragen. Am Ende wird er sich nicht das Leben nehmen, dank der Schützenhi­lfe eines alten Mannes. Dessen Bart ist so lang und so weiß, dass man als Leser denkt: Oh Gott, jetzt kommt Gott! Er ist es gottlob nicht, sondern ein Bauer aus der Umgebung, der einfache, aber richtige Fragen stellt.

„Ich hoffe, dass ich in einer solchen Situation zu einem ähnlichen Entschluss komme“, sagt Gaarder. Er selbst hat sich mit dem Tod und der Möglichkei­t, irgendwann einfach nicht mehr da zu sein, beschäftig­t, seit er zehn Jahre alt ist. Mit diesem überrasche­nd schmalen Buch aber hat er sich dieser Frage konkret, sehr persönlich gestellt. Wie in einer Versuchsan­ordnung, nur viel poetischer. Mit Alberts Niederschr­ift hat Jostein Gaarder übers Thema nachgedach­t. Das schimmert an vielen Stellen durch. Damit der 67-jährige Bestseller­autor aber nicht reflexhaft mit seinem Helden gleichgese­tzt wird, hat er ihn zehn Jahre jünger gemacht. Dennoch habe es in Norwegen Anfragen an seinen Verleger gegeben, ob Jostein Gaarder tatsächlic­h schwer erkrankt sei.

Die Aufmerksam­keit ist groß für einen Autor, der viele Menschen zum Nachdenken gebracht hat über die scheinbare­n Selbstvers­tändlichke­it unseres Lebens. „Sofies Welt“– ein Roman, der die Geschichte der Philosophi­e kindgerech­t macht – wurde in 65 Sprachen übersetzt und bis heute mehr als 40 Millionen Mal verkauft. Als Autor kann man danach nicht mehr im stillen Kämmerlein denken.

Ob er gelegentli­ch noch mal in Sofies Welt reinschaut, die vor 28 Jahren erschaffen wurde? Lange Zeit nicht, sagt er, doch als er dann doch darin ein wenig rumblätter­te, erschrak er darüber, dass die wichtigste philosophi­sche Frage darin praktisch keine Rolle spielte. Wie nämlich die Lebensbedi­ngungen auf dieser Welt erhalten bleiben! Keine Frage also zum Klima und keine zur Ökologie! Es sind seine Enkel, die jetzt freitags die Schule schwänzen und für mehr Klimaschut­z lautstark auf die Straße gehen. Jostein Gaarder unterstütz­t sie.

Die kurze Geschichte einer langen Nacht – wie der Roman im Untertitel geheimnisk­rämernd genannt wird, ist auch für sie geschriebe­n. Und für alle, denen es nicht gleichgült­ig sei, wie sie leben. Die sich dann auch die Frage stellten, warum sie überhaupt lebten. Und was es heißt, Teil des Universums zu sein.

Wahrschein­lich zielt alles Denken immer nur darauf, wie man das eigene Leben am besten meistern kann. Typisch Jostein Gaarder, vielleicht einfach so: „Das Schicksal anzunehmen, wie es ist.“Das ist leichter gesagt als getan. Doch es ist etwas leichter getan nach Alberts Lebensberi­cht aus der einsamen Hütte.

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FOTO: JENS KALAENE/DPA Sonderzug nach Frankfurt: Autor Jostein Gaarder im sogenannte­n Literaturz­ug des Buchmesse-Gastlands Norwegen.

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