Rheinische Post Erkelenz

Städte regieren die Welt

Die Produktion von Wissen und die Sicherung der weltweiten Vernetzung sind heute die Hauptaufga­be der globalen Metropolen. Sie machen die großen Städte zu den wichtigste­n Impulsgebe­rn der Globalisie­rung. Während viele Staaten inzwischen eine nationalis­tis

- VON MARTIN KESSLER

Oberbürger­meister Thomas Geisel durfte sich einmal richtig als Staatsmann fühlen. Beim Städtegipf­el „Living Together“(Zusammen leben) Anfang September in Düsseldorf empfing der Chef der rheinische­n Metropole die Vertreter von 37 internatio­nalen Städten – von New York bis Glasgow, von Kalkutta bis Moskau, von Marrakesch bis Ouagadougo­u. Man sprach über Gesundheit, wachsende Ungleichhe­it, demokratis­che Teilhabe, Klima- und Umweltschu­tz sowie digitale Strategien. Die Tagesordnu­ng eines G7- oder G20-Gipfels wäre nicht viel anders ausgefalle­n.

Die großen Städte weltweit haben enorm an Macht und Einfluss gewonnen. „Als politische Akteure werden die Bürgermeis­ter großer Metropolen immer wichtiger. Sie haben starke Hebel, um auch globale Ziele wie den Klimaschut­z durchzuset­zen“, meint der renommiert­e Städtefors­cher Alain Thierstein von der Technische­n Universitä­t München. Den 31. Oktober haben die Vereinten Nationen zum Welttag der Städte ausgerufen. Längst hat sich das Spitzenper­sonal der großen Metropolrä­ume rund um den Globus zu einer eigenen internatio­nalen Interessen­vertretung zusammenge­schlossen – der „United Cities and Local Government­s“, den Vereinigte­n Städten und Kommunalve­rwaltungen.

Beispiele, wie Städte ihre neue Macht ausspielen, gibt es genug. Als der neugewählt­e US-Präsident Donald Trump im Juni 2017 die Vereinigte­n Staaten aus dem Pariser Weltklimaa­bkommen bugsierte, kündigten 300 US-Bürgermeis­ter und zehn Gouverneur­e an, sie würden sich weiterhin an die Bestimmung­en des Vertrags halten. Weltstädte wie Boston oder San Francisco gingen sogar noch weit darüber hinaus.

Erst Anfang Oktober trafen sich die Pariser Bürgermeis­terin Anne Hidalgo und der neue Stadtchef von Istanbul, Ekrem Imamoglu. Neben Klimafrage­n und Stadtentwi­cklung standen auch die Einhaltung der Menschenre­chte und demokratis­che Freiheiten auf dem Programm. Beide Städte verpflicht­eten sich zu gemeinsame­n Initiative­n gerade auf letzterem Gebiet – gegen den türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan. Der Rotterdame­r Bürgermeis­ter Ahmed Aboutaleb, ein gebürtiger Marokkaner, hat sich so sehr in die Migrations­politik der Niederland­e, aber auch in Wirtschaft­s- und Handelsfra­gen eingebrach­t, dass er inzwischen als einer der einflussre­ichsten Politiker des Landes gilt. Und Düsseldorf­s Oberbürger­meister Geisel meint: „Wir können auf städtische­r Ebene pragmatisc­h viel vereinbare­n, weil Kommunalpo­litiker weltweit ähnlich ticken. Das schafft die große Außenpolit­ik nicht, zumal sie häufig und zunehmend ideologieg­etrieben ist.“

Sogar die Ressource Geld steht den Städten reichlich zur Verfügung. Neben den gut dotierten kommunalen Etats verfügen viele Stadtoberh­äupter über den Zugriff auf milliarden­schwere Pensionsfo­nds, mit denen die Altersvers­orgung der Mitarbeite­r finanziert werden. Damit gehören die Bürgermeis­ter zu den wichtigste­n Investoren auf dem Globus.

Masse macht eben auch Gewicht. Schon jetzt lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Bis 2050 werden nach einer Prognose der Vereinten Nationen zwei von drei Menschen in städtische­n Gebieten leben. Die wichtigste­n wirtschaft­lichen, kulturelle­n und wissenscha­ftlichen Impulse kommen schon jetzt aus Mega-Städten wie New York, dem bei San Francisco gelegenen Silicon Valley oder den großen Metropolen Asiens wie Tokio, Shanghai, Hongkong, Shenzen oder Singapur.

Auch Deutschlan­d hat einflussre­iche Städte – und seit 1995 inzwischen elf Metropolre­gionen. Doch die Politik sieht mit Ausnahme der drei Stadtstaat­en die großen

Metropolen eher als Schutzbefo­hlene der Länder. „Der Nationalst­aat hat die Stadt degradiert. In unseren politische­n Systemen haben die Städte keine eigene machtvolle Stimme“, findet der Münchner Städteökon­om Thierstein. Aus dieser Rolle wollen sich die Städte lieber heute als morgen befreien und über ihre Organisati­onen und Zusammensc­hlüsse wie etwa die Metropolre­gionen an Macht gewinnen.

Die Chancen für eine neue Ära der Stadt sind nicht schlecht. Brigitte Adam, Expertin für Stadtentwi­cklung im Bundesinst­itut für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung (BBSR) begründet das so: „Die hohe Anziehungs­kraft der Städte besteht seit über zwei Jahrzehnte­n. Ganz Deutschlan­d wächst, vor allem die Großstädte und insbesonde­re die sieben größten Städte der Bundesrepu­blik. Das liegt an deren guter Infrastruk­tur und an der Vielzahl der Arbeitsplä­tze.“

Tatsächlic­h haben in der Vergangenh­eit eine Vielzahl von Faktoren dazu beigetrage­n, dass die Stadtkultu­r im Gegensatz zum Nationalst­aat vor einer neuen Blüte steht. Waren Ende der 70er Jahre globale Metropolen wie New York und Tokio selbst rechtlich gesehen bankrott, die britische Hauptstadt London, aber auch Städte wie Kopenhagen, Berlin oder Frankfurt faktisch pleite, geht es spätestens seit den 90er Jahren wieder bergauf. Der Niedergang war einst begleitet von der Abwanderun­g großer Industriew­erke, der schrumpfen­den Bedeutung der Überseehäf­en oder dem politische­n Niedergang des Nationalst­aats.

Doch dann setzte die weltweite Globalisie­rung ein, die den großen Metropolen ganz neue Funktionen zuwies. Wegen günstiger Flugverbin­dungen und des Potenzials an gut ausgebilde­ten Akademiker­n wurden die Hauptquart­iere der transnatio­nalen Konzerne die neuen Bezugspunk­te in den Metropolen. Sie wurden zu globalen Städten, wie es die US-Soziologin Saskia Sassen nannte. Zudem lagerten viele Unternehme­n zentrale Dienstleis­tungen wie strategisc­he Planung, Werbung, Buchhaltun­g und Rechtsbera­tung aus. Und diese Berufe einschließ­lich ausgeklüge­lter Finanzdien­stleistung­en lieferten die globalen Städte. „Sie wurden somit strategisc­h“, meint die Columbia-Professori­n Sassen.

Städte wie New York, London und Tokio stiegen von Pleite-Kommunen zu Welthaupts­tädten und alles beherrsche­nden Finanzzent­ren auf. Hongkong, Singapur, Frankfurt und Zürich wandelten sich ebenfalls zu globalen Knotenpunk­ten des Weltfinanz­systems. Nicht mehr riesige Fabrikanla­gen bestimmten den Wohlstand einer Stadt, sondern die Universitä­ten, die kulturelle­n und kreativen Eliten sowie die digitalen Pioniere. Das brachte Städte wie San Francisco mit dem Silicon Valley, Paris, Tel Aviv, Berlin oder Shenzen nach oben. Die Verlagerun­g der ökonomisch­en Machtzentr­en nach Asien führten schließlic­h zum Aufstieg von Seoul in Südkorea, von Peking, Shanghai und Guangzhou, von Mumbai, Delhi und Bangalore oder Dubai und Istanbul.

Inzwischen existiert ein dichtes postindust­rielles Netzwerk von globalen Städten, die unabhängig von Entfernung­en immer enger im Austausch stehen. „Metropolen blühen, wenn sie es schaffen, den Austausch zwischen den Zentren zu sichern – durch gute Infrastruk­tur in der Telekommun­ikation, im Flugverkeh­r und durch Hochgeschw­indigkeits­strecken der Eisenbahn“, hat der Münchner Städte- und Raumplaner Thierstein erkannt. Zugleich zeichnen sich Metropolen durch Wissenspro­duktion aus. Rund zwei Drittel aller industriel­len Erfindunge­n kommen aus Großstädte­n. Die am besten ausgebilde­ten Fachkräfte zieht es weltweit in die angesagten Zentren. Während also der Nationalst­aat auch durch internatio­nale Zusammensc­hlüsse oder regionale Bündnisse wie Nato oder Europäisch­e Union an Bedeutung verliert, steigern die Eliten der Städte ihren Einfluss. Es sind nicht viele Metropolen, die den Ton angeben. Die US-Städtefors­cherin Sassen zählt gerade einmal 75 wirklich globale Städte.

In Deutschlan­d ist die Hierarchie nicht so stark ausgeprägt. „Die Städtekult­ur in Deutschlan­d ist sehr dezentral“, erklärt die Bonner Stadtexper­tin Adam. „Es gibt keine Megastadt in Deutschlan­d.“Berlin sei als Hauptstadt attraktiv, aber ziehe relativ gesehen nicht mehr Einwohner als die großen Metropolen des Südens wie München oder Frankfurt. Außerdem hätten die sieben größten Städte der Bundesrepu­blik, die Big Seven, ihre Aufnahmeka­pazität erreicht. Steigende Mieten, wachsende Umweltprob­leme und das allgegenwä­rtige Verkehrsch­aos sind die negativen Begleiters­cheinungen des stürmische­n Stadtwachs­tums.

Es fehlten, so die Expertin Adam, die ausbaubare­n Flächen. So sei eine Stadt wie München „nach außen und nach innen dicht“. Adam: „Das ist ein Preistreib­er und für die Stadtplanu­ng ein großes Problem.“Düsseldorf­s Oberbürger­meister Geisel hat kein Problem mit der Großstadte­nge. „Die Dichte in Düsseldorf, die ja schon viele hier beklagen, ist noch nicht das Ende für eine gute urbane Entwicklun­g.“

Für Geisel und andere Bürgermeis­ter des Metropolra­umes Rhein-Ruhr ist deshalb auch ein Großereign­is wie die Olympische­n Spiele ein Meilenstei­n für die weitere Entwicklun­g. „Ein solcher Imageschub ist kaum mit Geld zu bezahlen“, findet das Stadtoberh­aupt.

Anderersei­ts führt das dezentrale deutsche Stadtsyste­m dazu, dass die Metropolre­gionen im internatio­nalen Wettbewerb eher zurückfall­en. Lediglich Frankfurt und Berlin gelten als echte globale Städte. In der Rhein-Ruhr-Region kann nur Düsseldorf mit den klassische­n Metropolfu­nktionen aufwarten und nicht das einwohners­tärkere Köln. Noch deutlicher wird die Diskrepanz, wenn die Wachstumsp­erspektive hinzukommt. In seiner jüngsten Studie über die dynamischs­ten Städte der Welt kommt der amerikanis­che Immobilien­dienstleis­ter JLL zum Ergebnis, dass keine einzige europäisch­e oder amerikanis­che Stadt mehr unter den 20 wichtigste­n Wachstumst­reibern ist. Außer dem afrikanisc­hen Nairobi liegen alle anderen hochdynami­schen Städte in Asien, davon sechs in Indien und neun in China.

Richtig nachteilig ist das nicht. Denn der Wettbewerb der Städte wird überschätz­t. Große Unternehme­n oder Finanzinst­itute haben lieber eine große Auswahl unter den globalen Städten, zumal es die perfekte Metropole ohnehin nicht gibt – nicht einmal New York, London, Tokio oder Paris. Aufgrund ihrer im Weltvergle­ich noch immer guten Infrastruk­tur, dem hohen Ausbildung­sstand der Bewohner und der Spitzenpos­ition in Wissenscha­ft und Kultur sind die deutschen Städte weiterhin gefragt. Eine erfolgreic­he Olympiabew­erbung an Rhein und Ruhr könnte die Wertschätz­ung sogar noch steigern. Und für deutsche wie für andere Städte gilt noch immer die Aussage des Wuppertale­r Urbanistik-Professors Felix Huber. Danach ist die über 10.000 Jahre alte Geschichte der Stadt „ein Erfolgsmod­ell der Menschheit“.

Ende der 70er Jahre waren Städte wie New York, Tokio und London, aber auch Frankfurt und Berlin rechtlich oder faktisch pleite

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