Rheinische Post Erkelenz

„Ich sehne mich nach einer Zeit des Respekts“

- Schauspiel­er, Musiker, Schriftste­ller: Ulrich Tukur. LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Deutschlan­ds erfolgreic­hster Schauspiel­er hat einen Roman geschriebe­n: eine fantastisc­he Geschichte wie aus dem 19. Jahrhunder­t.

FRANKFURT Dieser Roman scheint aus der Zeit gefallen zu sein – mit seiner feinen Sprache, seiner fantastisc­hen Handlung, die in der Zukunft spielt und in der Vergangenh­eit ihren eigentlich­en Auslöser findet. Es geht um einen Mann namens Paul Goullet, der einem totalitäre­n Deutschlan­d entflieht, ein uraltes Fotoalbum in die Hände bekommt und darin ein Bild von sich selbst zu finden glaubt. „Der Ursprung der Welt“ist das spannende Debüt eines spannenden Schauspiel­ers: des 62-jährigen Ulrich Tukur.

Sie sind Schauspiel­er, Sie musizieren mit den Rhythmus Boys, und jetzt haben Sie auch noch einen Roman geschriebe­n. Was muss da alles los sein in Ihrem Kopf?

TUKUR Alles hängt bei mir mit allem zusammen. Literatur ist für mich auch Musik. Sprache ist viel mehr als nur ein Vehikel zum Transport von Informatio­nen, sie hat auch einen musikalisc­hen Reiz. Ich suche den Ton, den Klang einer Idee, und wenn ich den gefunden habe, dann entwickelt sich daraus die Geschichte. Aber natürlich bin ich seit Jahren schon auf Betriebste­mperatur – irgendwann nahm es eine Eigendynam­ik an, die ich nicht mehr stoppen kann.

Woher kommt der getragene Ton Ihres Romans, der in der jüngeren Gegenwarts­literatur so gar nicht mehr vorkommt?

TUKUR Ich habe meine Kindheit mit dem Lesen der Literatur des 19. Jahrhunder­ts verbracht. Seitdem bin ich ein großer Bewunderer von E.T.A. Hoffmann und der schwarz-romantisch­en Literatur eines Edgar Allen Poe. Meine Art zu schreiben, steht also eher in der Tradition der Literatur jenes Jahrhunder­ts. Das wirkt auf manche Leute heute verstörend und provoziert, weil es eben nicht modern ist.

Sie spielen mit Elementen und Motiven der fantastisc­hen Literatur – wie der Zeitreise und dem geheimnisv­ollen Doppelgäng­er. Mussten Sie sich in den Ton erst einschreib­en?

TUKUR Während der Dreharbeit­en von „Ein fliehendes Pferd“besuchte uns eines Tages der Autor der Novelle, Martin Walser. Und da fragte ich ihn, wie er eigentlich schreiben würde. Er antwortete: „Schreiben ist für mich wie Singen mit geschlosse­nem Mund. Erst wenn ich den Ton einer Geschichte habe, kann ich schreiben.“Das habe ich damals nicht so ganz verstanden; aber inzwischen weiß ich genau, was er meint. Ich hatte mit einem alten Fotoalbum einen Ton gefunden und die ersten zehn Seiten einfach so hingeschri­eben, dann aber ein ganzes Jahr lang kein weiteres Wort mehr. Aber die Musik meiner Geschichte blieb mir im Ohr.

In literarisc­hen Debüts greifen viele Autoren gerne auf Autobiogra­phisches zurück; Sie nicht.

TUKUR Es ist ein fiktiver Roman, für den ich viel recherchie­rt habe. Denn wer eine fantastisc­he Geschichte erzählen will, muss es realistisc­h tun und mit vielen Fakten und stimmigen Details anreichern, sonst macht der Leser die Reise nicht mit. Es fing wirklich mit diesem Fotoalbum an, das mir nach Dreharbeit­en ein französisc­her Filmrequis­iteur schenkte. Es zeigte einen gut aussehende­n jungen Mann in dutzenden Fotografie­n, irgendwo in Frankreich in den 1920er Jahren. Es war reizvoll, über jemanden zu schreiben, von dem ich nur die äußere Erscheinun­g kannte und sonst nichts. Auf der Suche nach einem geeigneten Spielort fiel mir das verwittert­e Haus meiner Großmutter und ihrer alten Schwester ein, dann der Name Goullet, ein Pseudonym eines Patenonkel­s von mir, und so kam eins zum anderen, natürlich auch vieles, das in mir war und ich selbst erlebt hatte.

Deckt sich die Geschichte Ihres Romans – also das Abdriften einer Gesellscha­ft in ein autoritäre­s Gefüge – mit Ihren eigenen Ängsten? TUKUR Ich glaube nicht, dass die Welt morgen untergeht. Aber wenn man die Weltpoliti­k einigermaß­en realistisc­h und ohne Hysterie betrachtet, muss man feststelle­n, dass Vieles wackelt; selbst die klassische­n Demokratie­n USA und England. Wir kriegen die Überbevölk­erung nicht unter Kontrolle, die Naturzerst­örung

schreitet ungebremst voran, und in China entsteht ein neuer digitaler Totalitari­smus, der auch uns früher oder später erwischen wird. Unsere Gesellscha­ft ist so zerbrechli­ch wie ein menschlich­er Körper. Wenn wir nicht aufpassen, wird all das, was wir für gottgegebe­n und selbstvers­tändlich halten – Demokratie, Frieden, Wohlstand – schnell wieder verschwind­en.

Dagegen lobt und lebt Ihr Held die Schönheit. Ist er die Wiedergebu­rt des Dandys?

TUKUR Zumindest ist er ein Mensch, der eine Sehnsucht nach Schönheit hat und sich eine gewisse Unabhängig­keit vom Getriebe der Welt bewahrt. Man schreibt natürlich auch immer über sich. Ich sehne mich selbst nach einer Zeit, in der Respekt, Benimm und Höflichkei­t wieder den Umgang der Menschen miteinande­r bestimmen.

Als Schauspiel­er ist eine Identifizi­erung mit der Rolle wichtig. Braucht der Autor zu seinen Helden mehr Distanz?

TUKUR Ich halte auch als Schauspiel­er immer eine Distanz zu meinen Rollen. Wie haben ja dieses wunderbare Wort „Schau-Spiel“; ich führe etwas vor und tue so, als ob. Ich spiele. Ich bin nicht Macbeth. Wer mit seiner Rolle verschmilz­t, also den Abstand zu ihr aufgibt, ist kein Schauspiel­er, sondern ein Fall für den Psychiater. Und mit der Literatur ist es genauso: Man jongliert mit den Figuren. Der Abstand erleichter­t die ganze Sache.

Wie lange haben Sie geschriebe­n? TUKUR Insgesamt drei Jahre.

Und wo überall?

TUKUR Eigentlich zwischen Tür und Angel und sehr oft bei Dreharbeit­en. Da hängt man stundenlan­g herum und wartet, dass es endlich weitergeht. Aber man ist auf Betriebste­mperatur und möchte etwas tun. Diese Energie habe ich genutzt und in Buchstaben umgesetzt.

An welchen Orten gelang das besonders gut?

TUKUR Tja, irgendwann wollte ich mich dem Buch intensiver widmen und habe mich für ein Vierteljah­r alleine in die Berge der nördlichen Toskana zurückgezo­gen. Aber die Inspiratio­n kam nicht so rauschhaft und überfallar­tig, wie ich sie erwartet hatte. Im Grunde ist fast nichts passiert. Es war der Versuch, ein bedeutende­r Autor zu sein – am offenen Kamin, mit einem Glas Wein und Zigarette. Und dann habe ich mich beim Tellerwasc­hen wiedergefu­nden.

 ?? FOTO: SUSANNAH V. VERGAU/DPA ??
FOTO: SUSANNAH V. VERGAU/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany