Eine Saison der Extreme
Das Ende im tristen Niemandsland täuscht: Wer später in der Vereinschronik blättert, wird oft hängenbleiben bei der Saison 2021/22. Borussia Mönchengladbach hat so viele Gesichter gezeigt, dass es zwischenzeitlich kaum zu fassen war.
Mit 45 Punkten, dem zehnten Platz und einem Aus im DFB-Pokal-Achtelfinale reiht sich die Saison im grauen Mittelmaß der Vereinsgeschichte ein. Doch in Vergessenheit geraten wird 2021/22 nicht so schnell. Borussia Mönchengladbach hat in dieser Spielzeit einige Extreme erlebt: ein Jahrhundertspiel und Geisterspiele, Kantersiege und historische Pleiten, ein Champions-League-Gesicht und eines, das die Mannschaft in den Abstiegskampf beförderte.
Vergangene Saison hat Borussia ein 5:0 (gegen Arminia Bielefeld) und ein 0:6 (beim FC Bayern) sogar in zwei aufeinander folgenden Spielen hinbekommen. 118:117 Tore in zwei Jahren zeugen davon, dass eine Neigung zu Extremen nicht erst unter Hütter entstanden ist, sondern bereits in Marco Roses Endzeit nach seiner Abschiedsankündigung. Mit dem 5:1 gegen die TSG Hoffenheim hat Gladbach zum Abschluss den höchsten Saisonsieg (in der Bundesliga, zum Rest kommen wir gleich) eingefahren, gemeinsam mit dem 4:0 gegen die SpVgg Greuther Fürth in der Hinrunde bildet es den Gegenpol zu gleich zwei 0:6-Klatschen, die auf ihre Weise beide einzigartig und speziell waren. Zweifellos als historisch darf das 0:6 gegen den SC Freiburg bezeichnet werden, weil das Endergebnis nach 37 Minuten feststand. Unvergessen, wie Christian Streich es gar nicht fassen konnte, was seiner Mannschaft da gelungen war. Zudem kassierte Borussia nur 1966 mit einem 0:7 gegen Werder Bremen mal eine höhere Heimpleite. Bei Borussia Dortmund war sie dagegen schon häufig untergegangen, das 0:6 im Februar lieferte jedoch eine passende Pointe, weil es bis zur 70. Minute nur 0:2 stand und Gladbach bis dahin behaupten durfte, auf Augenhöhe gewesen zu sein.
Es ist nicht so, dass es keine Unkenrufe gegeben hätte. Während eine Fraktion T-Shirts anlässlich des 5:0 gegen den FC Bayern im DFB-Pokal in den Warenkorb legte, wies eine andere bereits darauf hin, dass kaum etwas typischer sein könnte für Borussia, als in der nächsten Runde auszuscheiden. Da war noch gar nicht das Achtelfinale bei Hannover 96 für Mitte Januar ausgelost worden. Gladbach ging bei seinem Zweitliga-Pendant dieser Saison mit 0:3 unter, war schier chancenlos und warf die große Möglichkeit auf Berlin weg in einem Jahr, in dem die Halbfinal-Paarungen Leipzig gegen Union Berlin und Bochum gegen Freiburg lauteten. Das „Jahrhundertspiel“gegen die Bayern am 27. Oktober 2021 hat dennoch stattgefunden und steht – anders als einer seiner Vorgänger, das 7:1 gegen Inter Mailand fast genau 50 Jahre zuvor – auch weiterhin in den Ergebnislisten. Ein wenig ähnelt es dem 5:1 gegen Real Madrid im Uefa-Cup 1985, nach einem 0:4 im Rückspiel schied Borussia noch aus. Immerhin – oder leider? – wurden damals keine T-Shirts produziert.
Borussia hatte die Königsklasse in der eigenen Hand, durch die jüngste „Siegesserie“war sie vor dem letzten Spieltag auf Platz vier gesprungen. Tatsächlich kletterte die Mannschaft durch das 3:1 zur Pause gegen Hoffenheim sogar noch auf Platz drei der Erste-Halbzeit-Tabelle. Hätten alle Spiele nur 45 Minuten gedauert, würde Borussia nächste Saison in der Champions League spielen – 58 Punkte, 34:31 Tore. Dagegen war am Samstag nach der Pause Zittern angesagt: In der Zweite-Halbzeit-Tabelle ging es darum, die Relegation zu verhindern. Mit einem seltenen Ereignis in dieser Saison sicherte sich Borussia letztlich Platz 15 – sie gewann nach dem ersten Durchgang auch den zweiten. Nur Schlusslicht Fürth hat nach der Pause ebenfalls 13 Punkte verspielt. Hatte Gladbach in der Vorsaison noch ein Führungs-Problem, war 2021/22 die Saison der völlig verschiedenen Halbzeit-Gesichter.
Als Gladbach am 13. August 2021 gegen den FC Bayern die Bundesliga-Saison eröffnete, waren 22.925 Zuschauer im Borussia-Park. Doppelt so viele Trommelfelle mussten sich erst einmal wieder an die Akustik gewöhnen nach fast anderthalb Jahren mit Geisterspielen oder gerade so fünfstelligen Kulissen, die Stimmung war bombastisch (oder war man einfach nicht dran gewöhnt?). Sogar 48.500 Fans durften im Pokal gegen die Bayern dabei sein, mehrmals kamen mindestens 40.000, zuletzt beim 4:0 gegen Fürth – bevor die Kapazität Anfang
Dezember erst auf 15.000 und schließlich mitten im Winter wieder auf null Zuschauer reduziert wurde. Zwölf ihrer 18 Pflicht-Heimspiele absolvierte Borussia vor einer Kulisse, die mindestens so groß war wie gegen die Bayern zum Start. Der Punkteschnitt: 2,25. Verloren ging von diesen Spielen kurioserweise nur das Derby gegen Köln in einem komplett ausverkauften Stadion. Die restlichen sechs Partien im BorussiaPark fanden vor weniger als 11.000 Zuschauern statt, die Ausbeute: 0,67 Punkte pro Spiel, nur ein Sieg gegen den FC Augsburg.
Jonas Hofmann hat einst zweieinhalb Jahre, 53 Einsätze und 57 Schüsse für sein erstes Bundesliga-Tor im Trikot von Borussia Mönchengladbach benötigt. Ein Elfmeter brach schließlich den Bann im August 2018. Vermutlich nicht einmal Hofmann selbst hätte es für möglich gehalten, dass ihm einmal zwölf Tore in einer Saison mit nur 53 Versuchen, darunter kein einziger Strafstoß, gelingen würden. Er ist Gladbachs überraschender Top-Torjäger, mit dem Doppelpack gegen Hoffenheim sicherte er sich noch Platz neun in der Torschützenliste, von allen deutschen Profis traf lediglich Serge Gnabry (14) noch häufiger. Um 4,2 übertraf Hofmann zudem seine 7,8 Expected Goals. Das Gegenteil verkörperte in Gladbach ein Spieler, dem der teaminterne Spitzenplatz vor der Saison locker zuzutrauen war. Doch Marcus Thuram war nicht fit, als es losging, verletzte er sich schwer am Knie und fiel Anfang April wieder aus, als er gerade zu alter Stärke zurückzufinden schien. Erst im 13. Einsatz brachte der Franzose überhaupt einen Schuss aufs Tor. Mit drei Treffern geht er aus seiner vermutlich letzten Spielzeit bei Borussia, mit einem Minus von 2,4 bei den Expected Goals.