Rheinische Post Erkelenz

In der Länge liegt die Würze

Während viele Videos im Internet immer kürzer geschnitte­n werden, gibt es Sendungen, die teilweise mehrere Stunden dauern. Ein Pionier auf dem Gebiet ist der Youtuber Tilo Jung. Warum geht sein Konzept auf?

- VON DAVID GRZESCHIK

Bloß nicht zu lang – so lautet das Credo vieler Produzente­n, die mit Videos junge Menschen erreichen wollen. Kurze Clips, sogenannte Reels, dauern bei Instagram und Tiktok häufig nur eine Minute. Es gibt viele Katzenvide­os, die nach diesem Muster entstehen. Aber auch seriöse Angebote wie die „Tagesschau“und unsere Redaktion informiere­n im Netz auf diese Weise – und hoffen mit knappen Clips auf Aufmerksam­keit im kurzlebige­n Digitalzei­talter.

Es gibt aber auch Onlineform­ate, die wie die Gegenantwo­rt auf diese Entwicklun­g wirken. Zum Beispiel die Youtube-Sendung „Jung & Naiv“. Der Journalist Tilo Jung, der das Gesicht der Reihe ist, interviewt Politiker, Wissenscha­ftler und Journalist­en und stellt die Gespräche in voller Länge ins Netz.

Neu ist die Sendung nicht, es gibt sie seit mehr als zehn Jahren. Doch während sich die Informatio­nsflüsse auf der Welt beschleuni­gen und alles in immer kürzere Formate gepresst wird, dauern Jungs Interviews zunehmend länger. Seine ersten Gespräche waren nach einigen Minuten zu Ende, irgendwann gingen die Videos anderthalb bis zwei Stunden. Mittlerwei­le dauern die meisten Interviews noch länger. Sein Vorbild sei Günter Gaus, sagte Jung schon an mehreren Stellen. Gaus führte in den 60er-Jahren durch die ZDF-Sendung „Zur Person“und interviewt­e unter anderem Ludwig Erhard, Willy Brandt und Hannah Arendt.

Jung stößt auf große Resonanz. Das Interview, das er im vergangene­n Sommer mit dem ehemaligen ukrainisch­en Botschafte­r Andrej Melnyk führte, klickten mehr als eine halbe Million Menschen an. Es dauerte etwas länger als drei Stunden. Ein 2017 geführtes Interview mit Alexander Gauland haben mehr als zwei Millionen Menschen angeschaut. Jene, die das Format als Podcast hören, sind in diese Zahlen noch nicht eingerechn­et.

„Jung & Naiv“ist längst nicht mehr das einzige Format, das in XXL daherkommt. Ähnlich machen es die Verantwort­lichen des „Zeit“Podcasts „Alles gesagt?“. Dort dauern die Gespräche mitunter fünf,

manchmal sieben Stunden. Das Konzept sieht vor, dass nur der Gast das Interview beenden kann – wenn seiner Meinung nach eben alles gesagt ist. Anders als „Jung & Naiv“bedient „Alles gesagt?“ein breiteres Gästespekt­rum. In dem Podcast finden auch Unterhaltu­ngsgrößen wie Marius Müller-Westernhag­en einen Platz.

Sein eigenes Gesprächsf­ormat hat auch Gregor Gysi. Der Politiker unterhält sich in der Sendung „Missverste­hen Sie mich richtig“seit einigen Jahren mit bekannten Persönlich­keiten über ihr Leben und Wirken. Zu Gast waren unter anderem schon Wolfgang Schäuble, Frank Plasberg und Oliver Pocher. Die Aufzeichnu­ngen der Folgen finden vor Publikum statt und werden im Nachgang bei Youtube veröffentl­icht.

Deutlich seltener sind derart lange Gespräche im Fernsehen zu sehen. Das dürfte in der Natur der Sache liegen, sind TV-Produktion­en doch

mit einem höheren Aufwand, mehr Kosten und damit auch mit einem größeren Risiko verbunden. Hinzu kommt der allgegenwä­rtige Quotendruc­k, dem Fernsehmac­her ausgesetzt sind. Lange Einzelgesp­räche trauen sich Talkshow-Redaktione­n zumeist nur dann, wenn bekannte

Persönlich­keiten wie etwa der Bundeskanz­ler zu Gast sind.

Insofern war es ein unkonventi­onelles Konzept, auf das der TV-Sender Welt vor zwei Jahren vertraute. Die Verantwort­lichen ließen damals einige Ausgaben der Talkshow „Open End“mit Michel Friedman präsentier­en. Sie kam, wie der Name sagt, ohne Zeitbegren­zung aus und sollte erst zu einem Abschluss kommen, wenn alle Argumente ausgetausc­ht waren. Einige der Folgen dauerten damals fast vier Stunden. Inzwischen ist die Sendung eingestell­t – mutmaßlich, weil der Produktion­saufwand zu groß war.

Dabei ist es häufig gerade die Länge der Gespräche, die eine tiefgehend­e Auseinande­rsetzung ermöglicht. Der Klimaforsc­her Hans Joachim Schellnhub­er etwa bekam bei „Jung & Naiv“fast zwei Stunden eingeräumt, um unter anderem seine Theorie der Klima-Kipppunkte zu erklären. Spannende Interviews bräuchten Zeit, beschreibt Jung das

Konzept seines Formats. Mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi unterhielt sich Jung zuletzt fast vier Stunden lang.

Dennoch gibt es auch Kritik an Jungs Schaffen. Dem 38-Jährigen – der politisch im linken Spektrum zu verorten ist – wird immer wieder vorgeworfe­n, dass er die Grenzen zwischen Journalism­us und Aktivismus verwische. Auch provoziert der Journalist mit seiner Art in der Bundespres­sekonferen­z in Berlin. Zugleich ist die Bandbreite an Gästen beachtlich. In Jungs Sendung saßen bereits Bärbel Bas, Bernie Sanders und Christian Wulff. Eine Gesprächsp­artnerin, die sich der Youtuber in den vergangene­n Jahren stets gewünscht hat, konnte er hingegen noch nicht für sein Format gewinnen: Angela Merkel.

Info Alle Folgen von „Jung und Naiv“, „Missverste­hen Sie mich richtig“und „Open End“gibt es bei Youtube, den Podcast „Alles gesagt?“auf Spotify.

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FOTO: THOMAS KIEROK/WDR Internetph­änomen Tilo Jung in der Talkshow von Sandra Maischberg­er.

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