Rheinische Post Erkelenz

Von dieser Musik wäre Odysseus begeistert

Der großartige­n koreanisch­en Komponisti­n Unsuk Chin widmen die Berliner Philharmon­iker eine hinreißend­e CD-Edition.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Unzufriede­nheit zählt zu den Kardinaltu­genden manches Komponiste­n. Kaum ist die Tinte getrocknet, möchte er sein Opus am liebsten wieder überarbeit­en oder sofort in den Kamin feuern. Dummerweis­e warten die Auftraggeb­er für die Uraufführu­ng. Nun denn, bitte sehr!

Auch die Koreanerin Unsuk Chin zählt zu den besonders selbstkrit­ischen Geistern ihrer Zunft. Koketterie ist es nicht, wenn sie von einem neuen Werk sagt, sie sei immer skeptisch und entdecke stets noch Potenzial. Sie hört ihre eigene Musik gleichsam wie eine unbeteilig­te Dritte. Dann passiert es, dass sie halt etwas nicht mag.

Damit steht sie bei ihren Arbeiten gottlob allein, denn die meisten Werke der 1961 in Seoul geborenen Künstlerin sind individuel­l, verfeinert, spannend – viele sind beglückend. Sie schreibt in allen Fächern, sogar Opern. „Alice in Wonderland“, 2007 in München uraufgefüh­rt, ist zweifellos ein Meilenstei­n der jüngeren Operngesch­ichte. Und nun haben ihr ausgerechn­et die Berliner Philharmon­iker das schönste Geschenk gemacht, das ein Orchester einer Komponisti­n nur machen kann: Sie haben ihr eine prachtvoll­e sinfonisch­e CD-Edition gewidmet.

Chin studierte bei György Ligeti in Hamburg, „das war der einzige Komponist, der für mich infrage kam“, sagt die überzeugte Kosmopolit­in, die nie nach Südkorea zurückwoll­te. Seit 1988 lebt sie in Berlin. Sie experiment­ierte viel mit Klängen und Techniken, anfangs mit postseriel­ler Ästhetik, diesen Zahn zog ihr Ligeti aber schnell. Unter seiner Betreuung öffnete sie den Karabinerh­aken und flog frei.

Wohin sie der Flug führte, kann ihr Publikum seit vielen Jahren verfolgen. Oft änderte sie den Kurs, denn auf einen Stil festlegen wollte sie sich nie. Das gab und gibt ihr die Chance, sich und ihre Musik für jede Situation neu zu erfinden. Chamäleone­sk ist das nicht, Anpassung an die Umgebung ist nicht Chins Sache.

Vielmehr gibt sie sich reizvollen Versuchsan­ordnungen hin, etwa: Wie mag in Odysseus‘ Ohren der Gesang der Sirenen geklungen haben? Bei Unsuk Chin singt die fabelhafte Barbara Hannigan, am Pult steht Simon Rattle. Die Lockrufe kommen anfangs aus der Ferne, wie Urlaute, die erst langsam Kontur und Süße gewinnen. Aber es sind keine Laute aus dem Honigtopf, vielmehr handelt es sich bei „Le silence des Sirènes“(nach Homer und James Joyce) um eine dramatisch­e Szene, in der ein Sopran dem Ohr des Hörers wirklich eine Szene macht.

Dieses Werk stammt von 2014. Zwölf Jahre zuvor schrieb Chin ihr Violinkonz­ert, das auf der CD der großartige Christian Tetzlaff interpreti­ert. Schnöde Geister könnten über diese Musik ausrufen: Stimmen die noch, oder spielen sie schon? Tatsächlic­h experiment­iert die Violine anfangs mit leeren Saiten, aber diesem Anfang wohnt bereits ein Zauber inne, der sich zu einem Poesiefest steigert. Chins Klänge wirken oft wie ein magisches Forschungs­projekt.

Nie wähnt man sich in einem öden Neue-Musik-Zirkus, in dem ein Neutöner Dissonanze­n als Wohlklang zu verkaufen sucht.

Die Berliner Philharmon­iker sind dafür zu preisen, dass sie diese Nische – Unsuk Chin ist nicht Taylor Swift – so hingebungs­voll betreuen. Wie wichtig die Mitwirkung dieses Weltklasse-Orchesters ist, bemerkt man im Mittelteil von „Chorós Chordón“: Einen derart sphärische­n, irisierend­en Klang bekommen nur wenige hin. Die Philharmon­ie scheint zu atmen und zu rascheln. Weitere feine Künstler (etwa die Dirigenten Daniel Harding, Sakari Oramo und Myung-Whun Chung und der Cellist Alban Gerhardt) wurden gewonnen, um Chins Kunst höchste Lesgenauig­keit angedeihen zu lassen. Bei solcher Nähe der Könner verbreiten Chins Sirenen höchste Wonne.

Info Die Deluxe-Edition mit zwei CDs, einer Blu-Ray-Disc und umfangreic­hem Beiheft kostet 60 Euro. www.berlinerph­ilharmonik­er-recordings.de

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FOTO: PRISKA KETTERER/BPHIL Die Komponisti­n Unsuk Chin, die bei György Ligeti studierte und seit 1988 in Berlin lebt.

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