Rheinische Post Erkelenz

„Diese Vorwürfe haben wehgetan“

Der Einsatzlei­ter erzählt, wie emotional die Räumung war und warum er großen Respekt vor den Aktivisten hat.

- CHRISTOS PASVANTIS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

AACHEN/ERKELENZ Wilhelm Sauer (59) war Einsatzlei­ter der LützerathR­äumung. Damit war er auf polizeilic­her Seite neben Polizeiprä­sident Dirk Weinspach (mittlerwei­le im Ruhestand) Hauptveran­twortliche­r für einen der größten Polizeiein­sätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Im Gespräch mit unserer Redaktion im Aachener Polizeiprä­sidium blickt er zurück auf die Umstände des Einsatzes, gibt Einblicke in die Gefühlswel­t der Beamten und spricht über Gewaltvorw­ürfe.

Herr Sauer, die Räumungsve­rfügung für Lützerath erging vom Kreis Heinsberg und der Bezirksreg­ierung Arnsberg erst im Dezember 2022, also nicht mal einen Monat vor der Räumung. Wie lange hatten sie den Einsatz geplant?

WILHELM SAUER Das kristallis­ierte sich schon ungefähr ein Jahr vorher heraus, als man merke, dass es eine zunehmende Symbolisie­rung rund um Lützerath gibt. Da haben wir angefangen, uns gedanklich damit zu beschäftig­en. Politisch war noch alles offen, aber gleichwohl müssen wir uns taktisch vorbereite­n. Die Vorbereitu­ngszeit war ein ganz entscheide­nder Punkt, denn so einen Einsatz, wo Sie Einsatzkrä­fte aus dem ganzen Bundesgebi­et zusammenzi­ehen, stemmen Sie nicht aus der Tasche. Da ging es auch um Versorgung und Unterbring­ung der Einsatzkrä­fte, und das braucht Zeit. So eine Räumung von Lützerath organisier­t man nicht in einer Woche, zumal sich die Protestsze­ne in Lützerath sich ja auch lange auf den „Tag X“vorbereite­t hat.

Sie hatten im Vorfeld klar kommunizie­rt, dass Sie mit einem mehrwöchig­en Einsatz rechnen. Letztlich hat es nur ein paar Tage gedauert, bis Lützerath geräumt war. War das Kalkül, um die Gegenseite in mehr Sicherheit zu wiegen?

SAUER Nein. Das, was wir seriös geplant hatten, hat noch besser gewirkt, als wir selber erhofft und vermutet hatten. Wir haben für vier Wochen Polizeikrä­fte angeforder­t, Unterbring­ungen gemietet, das macht man nicht aus taktischen Gründen, sondern aus einem ernsten Szenario heraus. Wir mussten schauen, wie groß der Widerstand­swert der Szene war. Der ist von der Szene selber immer wieder hochpropag­iert worden, es hieß „Wir verteidige­n Lützerath mit unserem Körper und machen Lützerath unräumbar“. Wir hatten alles andere als eine Hauruck-Aktion vor, denn die spricht für ein überhastet­es Vorgehen, das Kolleginne­n und Kollegen unnötig unter Druck setzt. Dann kann es auch zu Bildern und Gefahren kommen, die wir nicht haben wollen, zum Beispiel dass jemand von einem Baum gerissen wird. Die Marschrout­e war: Seriös und profession­ell planen und das auch nach außen kommunizie­ren. Das schlimmste, was ich mir vorstellen konnte, war, dass wir in einer wilden und hektischen Aktion reingehen und Lützerath überrennen und erst dann schauen, wie es hinter uns aussieht. Am Ende des ersten Tages waren wir dann sehr hoffnungsf­roh, als wir gemerkt haben, dass unser taktischer Ansatz der richtige war.

Zu Beginn, als die Polizeikrä­fte in den Ort vorgerückt sind, sah es allerdings schon etwas hektisch aus. War das alles genauso geplant?

SAUER Heute kann man es ja sagen: Der taktische Plan war ganz klar, Lützerath erst von außen zu umstellen und dann RWE bei der Errichtung eines Zauns abzusicher­n. In Lützerath wollten wir Sektoren bilden, um zu verhindern, dass dort Menschen die Stellungen wechseln können. Und dann haben wir eine Art Ameisenket­te geplant, um aus verschiede­nsten Richtungen nach Lützerath einzufließ­en und die Sektoren im Ort klar voneinande­r zu trennen. Ich glaube, mit diesem Vorgehen hat man nicht gerechnet.

Man ist davon ausgegange­n, dass die Polizei die Räumung Stück für Stück durchführt, dass wir uns Haus für Haus und Straße für Straße vornehmen. Ich glaube, dass wir da auch ein Stück weit überrascht haben.

Wie haben sie die Reaktion der knapp 600 Aktivisten in Lützerath wahrgenomm­en?

SAUER Ich muss sagen, dass aus der Protestsze­ne aus in weit überwiegen­dem Teil sehr vernünftig agiert worden ist. Darüber war ich positiv erstaunt. Dass die Leute ihr Zeichen setzen, ist völlig in Ordnung, das ist Demokratie, das ist Protest. Aber wir sind als Polizei nicht dazu da, um ein Ersatzgegn­er zu sein. Wir lösen ja nicht den Klimakonfl­ikt. Wir sind angehalten, Aufträge und Vollstreck­ungsersuch­en umzusetzen. Und die große Mehrheit hat das verstanden und uns nicht als Ersatzziel­scheibe verwendet. Das honoriere ich und rechne ich der Protestbew­egung hoch an, insbesonde­re der örtlichen Protestsze­ne in Erkelenz. Die hat sich nicht anstecken lassen. Wir mussten immer wieder registrier­en, dass Angereiste versucht haben, eine Gewalttäti­gkeit reinzubrin­gen. Nach dem Motto „So, wie ihr das macht, hat es keinen Erfolg, hier muss was passieren.“

Am Ende haben sehr viele Aktivisten den Ort freiwillig verlassen.

SAUER Ja, die Protestsze­ne hat einen ganz entscheide­nden Teil dazu beitragen, dass die Räumung so friedlich verlaufen ist und mehrere Hundert Menschen freiwillig Lützerath verlassen haben. Das war ein Faktor, den wir vorher nicht einkalkuli­eren konnten. Auf eine Szene, die ein Kamerateam auch festgehalt­en hat, bin ich besonders stolz. Als es darum ging, einen Dachboden zu räumen, sind die Kollegen auf ein

kleines Violinenko­nzert gestoßen. Und da kommt der Kollege hoch – und dafür feiere ich ihn heute noch – und fragt: „Wie lange brauchen Sie noch, bis das Stück zu Ende gespielt ist?“Die Antwort lautete drei bis vier Minuten, der Kollege sagte: „Dann spielen Sie doch noch zu Ende, und wer dann gehen will, kann gehen, wer oben bleibt, wird von uns rausgemeiß­elt oder -gesägt.“Wenn Sie als Polizeifüh­rer oben im Steuerungs­raum sitzen und so etwas sehen, denken Sie sich: Super, deeskalier­ender geht es wirklich nicht. Diese Besonnenhe­it war uns im Vorfeld schon sehr wichtig, wir haben keinen zeitlichen Druck gemacht, sondern wollten wenig Verletzte, Ruhe, Kommunikat­ion und Deeskalati­on.

So besonnen die Räumung verlief, so kritisch war aber der Tag des 14. Januars, als bis zu 35.000 Menschen vor Lützerath standen und viele in den Ort vordringen wollten. Aus der Aktivisten­szene wird Ihnen Polizeigew­alt und Behinderun­g der Rettungskr­äfte vorgeworfe­n.

SAUER Das tat wirklich weh, immer wieder mit diesen Vorwürfen konfrontie­rt zu werden. So etwas ist schnell frech behauptet, verbreitet sich im Internet schnell und ist sehr schwer zu widerlegen. Wenn die Szene eine Pressekonf­erenz einberuft und von lebensgefä­hrlich Verletzten und Rettungshu­bschrauber­einsätzen berichtet, die es nicht gab, sitzen Sie da und fragen sich: Was passiert hier gerade? Das war enttäusche­nd. Da war ich froh und auch überrascht, wie die Geschehnis­se vor Ort von vielen Journalist­en richtig eingeordne­t wurden. Für mich war eine der wichtigste­n Fragen: Wie nah und präsent lasse ich die Medien in den Einsatzrau­m? Die Kollegen müssen ihren Job machen und sich im Einsatzrau­m frei

bewegen können, da ist es schon belastend, wenn Kamerateam­s hinter ihnen stehen. Wir haben intern lange diskutiert, ich habe mich darauf eingelasse­n, die Medien nah heranzulas­sen und es war die richtige Entscheidu­ng. Die objektive, seriöse Berichters­tattung hat klar überwogen. Ich bin stolz darauf, dass wir eine rechtsstaa­tliche Polizei sind. Wir sind keine Schlägertr­uppe. Ein Lerneffekt daraus ist, dass wir auch bei künftigen Einsätzen höchsten Wert auf die Dokumentat­ion legen. Es ist ja fast seltsam, aber heute müssen Sie in der Lage schon daran denken: Was könnte uns im Nachhinein vorgeworfe­n werden? Heute wird alles gefilmt, dann sehen Sie ein kurzes Video, wo ein Kollege mit seinem Knie auf einem Rücken sitzt. Das sieht schlimm aus, keine Frage. Aber bei der Polizei, für die ich stehe, wird dieses Vorgehen begründet sein.

Warum wurde es an diesem Samstag so gefährlich?

SAUER Wenn die Leute nach Lützerath vorgedrung­en wären, möchte ich mir nicht vorstellen, was hätte passieren können in den Baugruben und den halb abgerissen­en Hallen und Gebäuden. Das wäre der Worst Case gewesen. Wir wussten vorher nicht, wie viele Tausend kommen und mit welcher Motivation. Ich habe ganz klar gesagt: Es kommt keiner nach Lützerath, das hätten wir uns nicht leisten können. Wir haben mehrere Ketten gebildet. Das war definitiv ein kritischer Moment, wo sich auf beiden Seiten Emotionen hochgescha­ukelt haben, wo Kollegen zurückgedr­ängt wurden. Als ich gesehen habe, dass der Raum zwischen der drückenden Masse und der Verteidigu­ngslinie zu eng geworden ist, war es meine Entscheidu­ng, nach vorne zu gehen und Raum zu gewinnen. Sonst werden Sie weggedrück­t und meine Einsatzkrä­fte kommen in eine brenzliche Situation, in der ihre eigene Sicherheit gefährdet ist. Es kam dann zu Bildern, auf die ich gerne verzichtet hätte, es ging taktisch aber nicht anders. Wenn sich in unserer Kette einmal eine Lücke aufgetan hätte, dann wäre es zu spät gewesen, die hätten wir nicht mehr geschlosse­n bekommen. Wir mussten von der Passivität in die Aktivität gehen.

Wir haben aber definitiv auch Bilder von Polizisten gesehen, die nicht verhältnis­mäßig agiert haben.

Ich werde nicht behaupten, dass wir alles richtig gemacht haben. In unseren Hundertsch­aften laufen überwiegen­d junge Menschen, das sind keine 50-Jährigen mit viel Erfahrung.

SAUER

Es gab Beleidigun­gen und Matschwürf­e gegen unsere Kräfte, wir alle haben das Video mit dem Mönch gesehen. Wenn Sie so etwas sehen, müssen schon in der Befehlsste­lle kurz in sich gehen, das war Provokatio­n pur. Wir verlangen von unseren Einsatzkrä­ften, dass sie so etwas abkönnen, und damit wurde unterschie­dlich umgegangen. Ja, es gibt Strafverfa­hren, ein großer Teil ist von der Staatsanwa­ltschaft schon eingestell­t worden. Wenn es eine Aufnahme von einem Kollegen gibt, der hinhaut, wo er nicht hinhauen soll, dann wird er dafür zur Rechenscha­ft gezogen.

Wie schwer ist es den Kollegen gefallen, diesen Einsatz von den eigenen politische­n Werten zu trennen? SAUER Darüber haben wir vorher intensiv gesprochen. Jeder hat eine Meinung zum Klimaschut­z, bei den jungen Kolleginne­n und Kollegen ist das noch stärker ausgeprägt. Wir hatten aber auch einen rechtmäßig­en Auftrag. Ich weiß, dass in den Hundertsch­aften über solche Themen heftigst diskutiert wird. Ich will selbstbewu­sste Leute haben, keinen Kadavergeh­orsam. Ich habe letztlich aber als Polizist ein Berufsetho­s und bin davon überzeugt, dass ich rechtmäßig handle. Jeder Kollege, der davon nicht überzeugt ist, muss sich umdrehen und von seinem Remonstrat­ionsrecht Gebrauch machen, also dem Recht eines jeden Polizisten, im Vorfeld gegen eine dienstlich­e Weisung Einspruch zu erheben.

Was bleibt aus Polizeisic­ht von diesem Großeinsat­z?

SAUER Wir haben unheimlich viel gelernt. Das Zusammensp­iel verschiede­ner Einheiten in dieser Größe ist jetzt auch Teil der Ausbildung der Hundertsch­aften. Wie wir an diesem 14. Januar Einheiten verschoben haben, wie Einheiten zusammenge­spielt haben. So etwas kann man zwar auf dem Hof trainieren, aber den Stress eines Echtfalls kann man nicht simulieren. Ich mache mittlerwei­le ganze Vortragsre­ihen und werde bis in den süddeutsch­en Raum, nach Wien und zum Europarat in Straßburg eingeladen. Die Nachfrage ist stark, weil es ein so herausrage­nder Einsatz war. Auch die technische­n Einheiten haben eine Menge gelernt. Wenn die jetzt einen Tripod sehen, wissen sie genau, was zu tun ist. Die Protestfor­men entwickeln sich ständig weiter. Ich würde sagen, man lernt auf beiden Seiten dazu.

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FOTO: POLIZEI Wilhelm Sauer (59) war in Lützerath für einen der größten Polizeiein­sätze in der Geschichte Nordrhein-Westfalens verantwort­lich.
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FOTO: RONALD WITTEK Bei der Großdemons­tration am 14. Januar kam es rund um Lützerath zu chaotische­n Szenen.

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