„Lassen uns nicht in die Psycho-Schublade stecken“
Seit drei Jahren und neun Monaten leidet Bettina Görtz an Long Covid. Obwohl sie die Krankheit stark mitnimmt, setzt sie sich auf vielfältige Weise für die Interessen gleichermaßen Betroffener ein.
Oftmals versucht sie morgens vergeblich, sich nach dem Zähneputzen auch noch die Haare zu waschen. Sie legt sich dann wieder ins Bett, zu müde, um irgendetwas anderes zu tun als einfach nur wegzudämmern. „Es ist eine Müdigkeit, gegen die man nicht ankommt“, beschreibt Bettina Görtz die Fatigue als eine Auswirkung von Long Covid. Als Fatigue wird eine anhaltende, für den Betroffenen sehr belastende Erschöpfung bezeichnet. Bei Görtz tritt die Fatigue täglich auf, kann den ganzen Tag lang anhalten. „Dieser Zustand kann auch Wochen und Monate dauern“, sagt sie, es sei nicht vorhersehbar. Es gebe keine Medizin gegen Fatigue, wie es auch keine gegen Long Covid gibt. Die Erkrankung könne bis zu 200 verschiedene Symptome hervorrufen, wie Görtz sagt, die meisten Betroffenen litten unter 20 bis 40 Symptomen.
Görtz, die ein ständiges Krankheitsgefühl hat, unter Herzrasen, erhöhtem Puls, Migräne, Übelkeit leidet, sich schlapp fühlt, sich hinsetzen muss, wenn sie vielleicht 30 Treppenstufen gestiegen ist und
dann Atemnot hat, führt vier aktive Gruppen, in denen sich Menschen, die an Long Covid leiden, austauschen. Zwei dieser Gruppen mit jeweils zehn bis zwölf Teilnehmern treffen sich einmal im Monat in den Räumen des Parisozial in Rheydt.
Die beiden anderen Gruppen treffen sich in Grevenbroich, dort wohnt Görtz.
Daneben führt Görtz mehrere Facebook-Gruppen, teils mit mehr als 10.000 Mitgliedern. Und dann hat die 62-Jährige noch eine inaktive
Gruppe von sechs Betroffenen, die bettlägerig sind oder im Rollstuhl sitzen, darunter ein 36-Jähriger, dessen Antrag auf Sterbehilfe abgelehnt wurde. Die meisten Betroffenen, die sie kennt, schafften den Sprung zurück in den Beruf nicht, scheiterten
an der Wiedereingliederung, so Görtz. Sie kennt zwei Ärzte, 45 und 48 Jahre alt, die aufgrund ihrer Long-Covid-Symptome ihre Praxen schließen mussten.
„Viele der Leute sind absolut verzweifelt“, sagt sie, neben körperlichen gebe es auch seelische Beschwerden: „Wir lassen uns aber auf keinen Fall in die Psycho-Schublade stecken.“Dass Long Covid kein Hirngespinst, sondern eine ärztlich anerkannte Autoimmunerkrankung ist, bestätigte auch Professor Huan Nguyen vom Elisabeth-Krankenhaus in Rheydt im Gespräch mit unserer Redaktion: „„Es gibt für diese Krankheit bisher keine eindeutigen Handlungsanweisungen, kein Kochbuch. Doch daran wird gearbeitet. Grundlagenforscher und Praktiker vor Ort müssen zusammenarbeiten“, sagt der Chefarzt der Abteilung Innere Medizin im „Eli“.
Görtz und weitere Betroffene fühlen sich oftmals mit ihrer Erkrankung von der Gesellschaft nicht ernst genommen. Selbst ihre eigene Hausärztin behaupte, Long Covid gebe es nicht, sagt Görtz. Trotz aller Widrigkeiten kämpft sie, die eine Erwerbsminderungsrente bezieht, darum, dass sie und andere von Long Covid Betroffene nicht in Vergessenheit geraten. „Wir wollen wahrgenommen und nicht beschimpft werden. Ich versuche für uns alle, etwas zu erreichen.“
Görtz und ihre Mitstreiter sind seit 2022 mit einer Petition im Bundestag vertreten. Die 62-Jährige tritt im Fernsehen und in anderen Medien auf, meldet sich immer wieder zu Wort, gibt nicht auf. Sie bezeichnet sich selbst „trotz allem als lebensfroher Mensch“. Bei vielen Dingen im Alltag unterstützt sie ihr Mann, beim Wäsche waschen etwa, beim Einkaufen, Kochen. Kraft schöpft Görtz aus der Natur, das sei immer schon so gewesen, sagt sie. Statt Fernsehen zu schauen – die Fähigkeit, sich einen vollständigen Film anzusehen, hat sie nicht mehr – übt sie sich in zehnminütigen Konzentrationsspielen.
Sie kann sich an kleinen Dingen erfreuen, etwa an herbstlichen, bunten Laubfarben, wenn sie einmal einen für sie guten Tag erwischt hat. „Ich war immer schon ein fröhlicher Mensch, in unseren Gruppen wird auch gelacht. Wir lachen und weinen gemeinsam, die Krankheit verbindet, und das hilft ungemein.“