An die Substanz
Sascha Lobo schreibt in seinem jüngsten Buch über eine große Vertrauenskrise, die auch unsere Demokratie erschüttere.
DÜSSELDORF Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Kennt jeder. Ein Bonmot, mit dem gerne Erziehungsberechtigte dem Nachwuchs die Grenzen ihres Vertrauens vor Augen führen. Dem russischen Revolutionär Lenin (1870–1924) wird dieser Satz zugeschrieben, der zum markanten Plädoyer fürs sogenannte gesunde Misstrauen wurde. Das wäre eine harmlose Beschreibung dessen, was aktuell und tiefgreifend in der Gesellschaft zu grassieren scheint: „Die große Vertrauenskrise“nennt es der Publizist, Blogger und Podcaster Sascha Lobo und hat damit auch sein jüngstes Buch betitelt. Danach ist die Krise des Vertrauens auch eine Krise des Vertrauten – und ist mehr als nur eine gesteigerte Politikverdrossenheit: Sie ist ein Alarmsignal für unseren Kontrollverlust. Echtes Vertrauen beruht nämlich darauf, dass wir die Realitätskontrolle über Situationen oder unser Leben zu haben glauben.
Die auch von Soziologen attestierte große Vertrauenskrise meint in Wahrheit einen grundlegenden Vertrauensverlust. Sascha Lobo spricht bei dieser Zuspitzung auch von Vertrauenspanik, wenn bei Menschen Vertrauen vollends schwindet. „Wir brauchen eine Art Minimalkonsens, eine Art Vertrauen in die ganz normale Realität: Stimmt das, was wir gerade sehen und was uns gegenübersteht?“, so Lobo im Gespräch mit unserer Redaktion.
Nach seinen Worten kann jeder stets ganz viel anzweifeln. Wenn aber zu viel oder sogar die Substanz angezweifelt werde, wie es etwa bei TrumpAnhängern oder CoronaLeugnern zu beobachten ist, dann scherten diese Leute aus jeder Gesellschaftsdebatte einfach aus: „Diese Menschen sind rational nicht mehr zu erreichen. Wer sich aber politisch engagiert und an Debatten teilnimmt, braucht ein Vertrauen vor allem in die Zukunft.“Der Verlust des Zukunftsvertrauens resultiert auch aus einem Defizit an Hoffnung, wenn es uns also an der Fähigkeit mangelt, über das, was aktuell ist, hinauszusehen.
Die aktuelle Vertrauenskrise wird keine Modeerscheinung sein, keine zwischenzeitliche Befindlichkeit von Menschen mit ausgeprägtem Unbehagen. Es gibt Ursachen dafür. Besonders naheliegend ist die CoronaPandemie mit einem eigenartigen Effekt. Zu Beginn der Pandemie stieg nach den Worten Lobos sogar das Zutrauen in Politik und Wissenschaft. So wurde für die Einschätzung unserer Lage der Virologe Christian Drosten für viele Menschen ein wahrer Vertrauensmann. Das aber änderte sich mit zunehmender Dauer der Pandemie und mitunter widersprüchlichen Maßnahmen und Informationen.
Für Lobo zählt Corona zu einem der Auslöser der weltweiten Vertrauenskrise. Auf Corona folgte dann „fast übergangslos“der russische Überfall auf die Ukraine und wurde zum „Brandbeschleuniger unserer gegenwärtigen Vertrauenskrise“. Inflation, Rezession und Klimakrise sind weitere Gründe für die „Vertrauensimplosion“. Es gibt im 21. Jahrhundert dazu eine Vorgeschichte mit Ereignissen in kurzen Abständen: mit den Anschlägen des 11. September 2001, dem zweiten
Irakkrieg ab 2003, der Finanzkrise 2008, der Eurokrise 2009, Pegida 2013, der russischen Annexion der Krim 2014, der Migrationskrise 2015, dem Brexit und vor allem der TrumpWahl im Jahr 2016.
Unsere Krisenerfahrungen haben sich zu einer bedrohlichen Polykrise addiert, in der radikal das Vertrauen in Institutionen schrumpft, die vormals so etwas wie Stabilität gewährleisten konnten. Jetzt aber wird gefragt: Kriegen die es hin, uns einigermaßen durch die Gegenwart zu schaukeln? Darauf beruht unser soziales Urvertrauen. „Wenn immer mehr Leute dies aber verneinen, kann dies zu einem großen Problem für unsere ganze Gesellschaft werden“, sagt Lobo. Ängste werden wach, die äußerst „destruktive Zweifel am Funktionieren der Demokratie“gebären.
Spätestens an diesem Punkt wird’s politisch brisant. Je kleiner das Vertrauen in demokratische Institutionen wird, desto größer wird das Machtpotenzial für autoritäre Herrscher, für jene also, die auch in komplexen Zeiten einfachste Lösungen parat zu haben scheinen. Das geschieht nach Lobo nicht selten mit dem simplen Instrument der Lüge – nach dem Motto: Beschuldige deine Feinde dessen, wofür du selbst verantwortlich bist. Verschwörungstheorien werden in die Welt gesetzt, Gegenrealitäten entworfen.
Weil es gilt, die liberale Demokratie zu stützen, und weil es kein glückliches Leben im Unglück geben kann, hat sich der 48Jährige auch Gedanken zur Bewältigung der Vertrauenskrise gemacht. Seine Ratschläge klingen empörend schlicht, können aber gerade deshalb erste Schritte zu einem verantwortungsvollen Umgang mit sozialen Medien sein – wie: nicht nur Überschriften lesen; Behauptungen als solche betrachten; fragen, wer und wann eine Info in die Welt gesetzt hat; wie ist der Sound der Kommunikation?
Abschottung von einer „vernachrichteten“Welt, in der man in jeder FamilienWhatsappGruppe mit Hinweisen beschossen wird, hilft nicht und wird von Lobo – der als seine Wohnorte Berlin und das Internet angibt – auch gar nicht empfohlen. Vielmehr müssten wir lernen, eine große Zahl neuer Nachrichten zu bewältigen, ohne dass darunter das Vertrauenszentrum leidet. Die Verarbeitung von Nachrichten wird zur Kunst. Und wer die nicht beherrscht, verliert schnell jedes Vertrauen.
Für ihn kann die digitale Vernetzung aber durchaus ein Teil der Lösung sein, um neues Vertrauen aufzubauen. Die globale Öffentlichkeit, der wir rund um die Uhr ausgesetzt sind, geht eben auch mit einem ungeheuren Wissenszuwachs und
einer neuen Form der Aufklärung einher. Sie stellt neue Erwartungen an eine transparente Kommunikation von Politik und Institutionen.
Das eindrucksvollste Beispiel ist für Sascha Lobo vor diesem Hintergrund Wikipedia: „Hätte man im 20. Jahrhundert jemanden gefragt: Vertrauen Sie einer Website, auf der jeder alles reinschreiben kann? – dann hätten die meisten doch gerufen: Auf gar keinen Fall, das ist der beste Weg, um Schindluder zu betreiben.“Es sei genau umgekehrt: Heute gehört Wikipedia zu den Plattformen, denen am meisten Vertrauen entgegengebracht wird. Und das offenkundig zu Recht. Nach einer mehrsprachigen Untersuchung durch Wissenschaftler der Universität von Oxford soll die Fehlerzahl auf Wikipedia geringer sein als in der altehrwürdigen und vielbändigen „Encyclopedia Britannica“.
Zu guter Letzt: Die eingängige und darum beliebte Redewendung Lenins über gutes Vertrauen und bessere Kontrolle soll nie gefallen sein. Überliefert ist, dass der russische Revolutionär dieses Sprichwort im Munde führte: „Vertraue, aber prüfe nach!“Klingt etwas harmloser. Vor allem zielt es auf das genaue Studium der Quellen. Könnte glatt von Sascha Lobo stammen.